Verwundbarkeit

verwundbar geworden
weil offen für andere
weil Eigendrehung beendet
weil Deckung verlassen

verwundbar gewählt
durch den Verzicht auf Waffen
durch die Bereitschaft zum Dialog
durch den Glauben an Frieden

verwundbar lebendig
kein Versteckspiel von Gefühlen
kein Vegetieren hinter den Mauern
kein Rückzug ins eigene Ego

verwundbar gemacht
im Aufzeigen von Unrecht
im Erheben der Stimme
im Einsatz für Gerechtigkeit

verwundbar liebend
bis in die Tiefe der Seele
bis in die Mitte der Nächte
bis an die Ränder des Seins

verwundbar nackt
weil Vertrauen geschenkt wird
weil Ängste verschwinden
weil Hoffnung keimt auf

verwundbar aufgezeigt
mit Symbolen umschrieben
in Texte verpackt
in Worte gekleidet

verwundbar göttlich
menschgeworden in Jesus
verletzbar von Geburt bis zum Tod
im Kreuz liegt ein Schlüssel zum Heil

klaus.heidegger, 20.2.2021

 

Die teuflische Versuchung der Unverwundbarkeit

Drei Grundversuchungen sind es, mit denen eine teuflische Macht Jesus laut Erzählung aller drei synoptischen Evangelien am Ende seines vierzigtägigen Fastens in der Wüste herausfordert. (Lk 4,1-11 par) Die neutestamentliche Lesung zum ersten Fastensonntag ist eine prototypische Symbolerzählung, die aufdeckt, wie Leben gelingen kann. Nachdem Jesus der Versuchung widerstanden hatte, aus Steinen Brot zu machen – Jesus wählt eine andere Strategie, führte der Teufel Jesus auf die Zinne des Tempels und versuchte ihn zu überreden, er solle sich von dort herunterstürzen. Die Engel würden kommen, um ihm zu dienen. Er sei als Sohn Gottes quasi unverwundbar. Wörtlich heißt es: „Darauf nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt, stellte ihn oben auf den Tempel und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, dich auf ihren Händen zu tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.“ Jesus antwortet dem Versucher mit einem Schriftzitat: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“

Nur Bibelfundamentalisten würden nun behaupten, dass es sich so wortwörtlich zugetragen habe, dass es da wirklich einen Teufel gab und Jesus wirklich in der Wüste gewesen wäre. Kämpferische Atheisten würden herablassend argumentieren, dass dies eine typische Märchenerzählung sei. Beide Seiten haben gemeinsam, dass sie die literarische Qualität dieser Erzählung nicht verstanden haben oder nicht verstehen wollen. Es ist nämlich eine „Legende“ oder besser noch eine „Weisheitsgeschichte“, die tiefere Wirklichkeiten für jene aufdeckt, die solche Geschichten symbolisch lesen und decodieren können.

„Das Fenster der Verwundbarkeit“ heißt ein Buch meiner Lieblingstheologin Dorothee Sölle, das sie am Höhepunkt der NATO-Nachrüstung in Europa schrieb. Die teuflische Versuchung, sich immer noch mehr mit Waffen abzusichern, so Sölle, führe letztlich zur atomaren Abschreckung. Wir können die Logik bis zum Adam-Eva-Mythos zurückverfolgen. In ihrer paradiesischen Nacktheit blieben Adam und Eva nur so lange glücklich, bis die Lüge und das mimetische Begehren nicht da waren. Dann aber kam die Scham als Folge des Sündenfalls. Nackt sein dürfen ist ein Zustand, bei dem wir uns in unserer ganzen Verwundbarkeit zeigen dürfen, ohne die Rüstung von Eitelkeiten und ohne die Schutzmauer von Schweigen oder gar Lüge. In einer Beziehung zwischen Menschen ist wohl nichts befreiender als das Gefühl: Bei dir darf ich sein, wie ich bin, mit meiner ganzen Verwundbarkeit, mit meiner Verletzlichkeit – weil ich vor dir keine Angst haben muss. Ich darf schwach sein, weil ich in schwierigen Situationen von dir auch gestützt werde; ich darf weinen, weil du meine Tränen trocknen wirst. Wenn Jesus dem Teufel sagt, er solle ihn nicht mit der Zusicherung von Engeln locken, die seinen Fall aufhalten würden, dann ist damit gemeint: Jesus zeigt uns den anderen Weg. Wir können uns fallen lassen, wenn wir in den Händen von liebenden Menschen aufgefangen werden. Wir können auch Ja sagen zu unserer Verwundbarkeit. Dies ist im Kontext einer Gesellschaft wichtig, in der der Ruf nach assistiertem Suizid immer lauter geworden ist. Wir sind an Körper und Seele verwundbar, was immer auch bedeutet, dass Leid und Schmerz, Krankheit und auch Tod zu unserem Leben gehören.

Klaus Heidegger, 20.2.2021