stadtflüchtig

Wo die durch Straßen, Häuser, Siedlungen, Parkplätze, Wohnanlagen, Industriegebiete, Kaufhäuser verdichtete Fläche des Stadtgebietes aufhört, beginnt im Norden der Stadt nahtlos die Majestät des Karwendels. Schon wenige Meter hinter den letzten Häusern von Kranebitten – privilegiert, wer hier von Straßenlärm ungestört wohnen kann! – sind eine Vielzahl an Steigen geschenkt, riecht die Stadt nicht mehr nach Abgasen, sondern duftet spätsommerlich nach Bäumen und anderen Pflanzen, wird der Boden weich und erholen sich Füße und Beine vom harten Asphalt, wird das Treiben geschäftiger Menschen ausgetauscht mit Einsamkeit – gerade an einem Regentag, wird der Lärm von rollenden Autos und ihren Motoren leiser und reduziert sich auf eine undefinierbare Lärmglocke, die weniger die Sinne stresst. Schon die ersten Schritte lösen die von der Stadt eingeschüchterten Sinne. Nicht mehr ist alles glatt und hart und kantig, sondern weich wie das Moos und die Pilze, die kräftig gedeihen im durchnässten Boden. Mit den Regentropfen kann die Seele weinen und ein Wolkenloch mit einem Sonnenstrahl gibt Hoffnung auf ein anderes Morgen. Kräftige Bäume zeigen: Wenn es Verankerung in der Erde gibt und Verwurzelungen geschehen, wenn es zugleich ein Ausstrecken in die Weite gibt und wenn vor allem – und nur so – eine Verbindung von Erde und Himmel geschieht, dann kann Leben gelingen, dann werden selbst die schlimmsten Stürme Glauben-Liebe-Hoffnung nicht ausreißen.

Ein kleines Zeichen nur und doch so groß beim Gasthof Rauschbrunnen. Getränke können aus einem Kühlschrank geholt werden. Man darf sich bedienen. Man setzt auf Vertrauen und Ehrlichkeit. Eine Kassa steht daneben. Selbstbedienung. So sollte Gesellschaft funktionieren. Man braucht keine Angst haben, dass wer stiehlt und betrügt.

Gleich daneben verbinden sich auf der kleinen Waldwiese Kunst und Glaube und Natur in einer wunderschönen Kapelle. Durchgehend mit Lärchenschindeln verkleidet sind Dach und Wände. Sie beschützen das Kleinod wie ein Mantel, der achtsam über die Glaubenden gelegt wird. Der Künstler wollte mit dem eigenartigen Eingang zeigen: Das Gleichmäßige wird durchbrochen. Wie eine Wunde, die offen ist, wird die Hülle durchbrochen. Das ist zugleich der Eingang. So wie das Herz-Jesu, nach dem die Kapelle benannt wurde. Im Süden ist die Kapelle ganz offen mit einer Fensterfront, die auch geöffnet werden kann. Der Blick geht hinein über die Stadt und in die Täler im Süden, Osten und Westen. So wie Kirche sein soll: Sich öffnen dem, was draußen ist. Im Norden ist eine Christusfigur. Es ist kein leidender Christus. Nicht einmal die Wundmale sind dargestellt. Es ist der Auferstandene, der scheinbar durch die hölzerne Wand im Norden herauskommt und den Menschen entgegentritt mit der Botschaft. Habt keine Angst! Ich bin auferstanden. Ich möchte, dass auch ihr mit mir aufersteht. Nicht am jüngsten Tag. Jetzt schon! Es riecht nach dem Zirbenholz der Sitzgelegenheiten, die sich je nach Situation auch verschieden anordnen ließen.

Gestärkt von solch theologisch durchdachter Architektur geht es weiter auf den Steigen: man könnte hier endlos gehen, gäbe es nicht viel zu tun in den Stätten da unten mit ihren Wunden und heilenden Orten und Kräften.

  1. 8. 2021