Würde man nur ein Wort des Jesus von Nazareth kennen und müsste es seine ganze Botschaft beinhalten, so könnte es jenes Logion aus dem heutigen Sonntagsevangelium (20.9.2015) sein. „Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.“ So unterweist Jesus seine Jünger, die sich in einem Eifersuchtsstreit verfangen haben. Im griechischen Urtext dieser Stelle aus dem Markusevangelium (9,37) wird das Verb „dechomai“ verwendet. Es bezeichnet eine gastfreundliche Aufnahme bzw. ein herzliches Willkommensein. Entsprechend heißt es genauer in der Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“. „Wer ein Kind gastfreundlich aufnimmt, …“ In diesen Wochen, in denen uns die Asylkrise beschäftigt, werden wohl viele an die Schilder mit der Aufschrift „Refugees welcome“ denken, mit denen Tausende in Deutschland oder Österreich demonstriert haben, dass Flüchtlinge herzlich aufgenommen werden sollen. Willkommensschilder für Flüchtlinge sind die 1:1-Umsetzung der Worte Jesu.
Menschen, die gegenwärtig zu Tausenden als Flüchtlinge um Aufnahme in den europäischen Ländern ansuchen, kommen nicht freiwillig. Sie kommen in größter Not, auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien, dem Terror der islamistischen Milizen oder der politischen Verfolgung in Eritrea. Sie sind das „Kind“, das in dieser Szene aus dem Markusevangelium von Jesus in die Mitte gestellt wird. Jesus umarmt es. Ganzheitlich-eindrücklicher könnte diese Geste nicht sein. Es erinnert an viele Szenen an den Grenzorten von Nickelsdorf oder Spielfeld oder in großen Bahnhöfen in Deutschland und Österreich: Flüchtlinge, die von den Rettungsorganisationen und den Freiwilligen versorgt wurden, „umarmt“ wurden. Niemand verlangt von einem Kind eine besondere Leistung, um es umarmen zu können. Dies geschieht zunächst aus „Menschliebe“, aus Empathie, oft spontan. Das Gegenstück zum Evangelium sind jene Stimmen und Bestimmungen, die nun beginnen zu sagen und zu fordern: Ja, aber warum kommst du überhaupt? Ja, aber warum suchst du nicht woanders um Asyl an? Ja, aber bist du nicht ein Wirtschaftsflüchtling?
Das heutige Sonntagsevangelium ist eine klare Botschaft gegen die Abschiebung oder „Rückführung“ von Flüchtlingen in sogenannte „sichere Drittstaaten“. Darunter ist ein Staat, der die Schwachen nicht in die Mitte nimmt, sondern ihnen mit Tränengas und Polizeiknüppel begegnet.
Eine indirekte Abwehr von Flüchtlingen, indem ihnen das Leben in den Zielländern erschwert wird – durch Vorenthaltung von menschenwürdigen Lebensbedingungen oder lange Wartezeiten im Asylverfahren – ist ebenso im Widerspruch zum Menschenrecht auf Asyl. Nicht Länder wie „Germany“, die bislang mehr Großzügigkeit im Umgang mit den Flüchtlingen zeigten, sind zu kritisieren, sondern jene, die mit ihrer Politik Flüchtlinge abschrecken. Wer vor den Flüchtlingen warnt, wer Grenzkontrollen befürwortet, wer neue Eiserne Vorhänge für gut heißt, der grenzt jene aus, die von Jesus in die Mitte genommen werden und in denen Gottes Antlitz aufleuchtet.
In vielen Ländern Europas hat die Zivilgesellschaft eindrucksvoll dokumentiert, wie Flüchtlinge willkommen sein können. Eine Welle der Hilfsbereitschaft geht durch die Länder, die zeigt: Menschen auf der Flucht verdienen es, bei uns aufgenommen zu werden. Die Herausforderungen sind schaffbar. Österreich hat schon größere Flüchtlingsbewegungen in schwierigen Zeiten bewältigt. Für Jesus liegt in der Frage des Umgangs mit den Schwachen auch der Schlüssel, um die Wirklichkeit von Auferstehung zu begreifen. Mit anderen Worten: Dort geschieht die Überwindung des Kreuzes und die begreifbare Wirklichkeit von Auferstehung, wo die richtigen Prioritäten gesetzt werden. Caritas-Direktor Nikolaus Landau drückt es prägnant aus: Ein Land mit 80.000 Millionären kann auch 80.000 Asylanträge bewältigen. Oder der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Reinhold Marx, der formulierte, dass in der Frage der Bereitschaft der Gastfreundschaft für Flüchtlinge sich letztlich unsere „christliche Identität“ erweise. Seine Kritik gilt jenen, die wie Orban und seine österreichischen Freunde von einem christlichen Europa reden, zugleich aber die Szene vom „umarmten Kind in der Mitte“ aus ihrem Denken und Handeln ausklammern.
Klaus Heidegger