Wer sich in den letzten Wochen der breiten Zivilbewegung „Refugees-Welcome“ anschloss, bekam zu hören, er oder sie sei „Realitätsverweigerer“. Dieser Begriff ist zum neuen Schimpfwort aus dem Munde rechtspopulistischer Politiker geworden. Im FP-Jargon gibt es sogar die Steigerungsform vom „gutmenschlichen Realitätsverweigerer“. Es klingt rational. Diejenigen, die als erste von „Realitätsverweigerung“ sprechen und schreiben, nehmen für sich in Anspruch, die Realität wahrzunehmen, während die „Verweigerer“ blind seien für Fakten. Mit dieser Wortwahl wird Stimmung gemacht. Die breite Masse, so sie nicht selbstständig denkt, wird sich spontan gegen die vermeintlichen „Realitätsverweigerer“ – i.e. Menschen in Solidarität mit den Flüchtlingen – stellen. Wer will denn schon die Realität verleugnen? Die Frage stellt sich allerdings, wer sich wirklich den Realitäten nicht stellen will oder mit Unwahrheiten die Wirklichkeit verstellt?
Es ist Realität, dass Menschen in überwiegender Zahl als Flüchtlinge zu uns kommen, die aus Kriegs- und Verfolgungssituationen geflohen sind. Es sind nicht mehrheitlich Wirtschaftsflüchtlinge, die sich „nur ein besseres Leben“ (HC Strache) in Europa aufbauen wollen. Wer von einer „Völkerwanderung“ spricht und damit die Flüchtlinge meint, der ist der eigentliche Realitätsverweigerer und vernebelt mit seiner demagogischen Wortwahl die Tatsachen. Wer fordert, Flüchtlinge sollten in ihren Lagern in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei bleiben, ist blind für die Situation, in der Flüchtlinge dort leben müssen. UNHCR berichtet von Vergewaltigungen, organisiertem Verbrechen, mangelnder Ernährung und Vorenthaltung grundlegender Rechte.
Es ist Realität, dass für Flüchtlinge das Menschenrecht auf Asyl laut Genfer Konvention gilt, das über jedem staatlichen Gesetz steht. Nicht Flüchtlinge brechen das Recht, sondern Gesetze und eine staatliche Politik von EU-Ländern, die das Grundrecht auf Asyl einschränken oder überhaupt negieren. Nicht Flüchtlinge stellen sich gegen das Recht, sondern Recht wird zurecht gebogen für nationalistischen Egoismus und klein- oder großbürgerliche Besitzstandsängste. Realtitätsverweigerer sind jene, die blind sind für grundlegende Menschenrechte.
Es ist Realität, dass ein Flüchtling nicht auf legalem Weg in die EU einreisen kann. Folge davon ist das tägliche Sterben im Mittelmeer. Die Schlepper sind nur in einem sekundären Sinne verbrecherisch, weil deren Tun letztlich Folge davon ist, dass Flüchtlinge ansonsten keine Möglichkeit hätten, in die EU zu gelangen. Daher ist es widersinnig, mit noch martialischerer Aufmachung die EU-Außengrenzen zu sichern, um so das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Realitätsverweigerer sind jene, die mit noch mehr Abschottungspolitik die Flüchtlingsbewegungen aufhalten wollen. Christian Konrad spricht als Flüchtlingskoordinator in diesem Sinne von einer „Illusion“, wenn mit dem Grenzendichtmachen Flüchtlingspolitik gemacht werden soll. (Tiroler Tageszeitung, 9.10.2015) Ebensolches wollen aber die blauen Realitätsverweigerer.
Es ist Realität, dass die Dublin-Verordnungen mit der Bestimmung, dass Flüchtlinge nur in dem ersten sicheren EU-Land um Asyl ansuchen dürfen, angesichts der Größenordnungen – der Anzahl der Flüchtlinge und der Wirtschaftskraft der Länder – nicht funktionieren können. Länder wie Orbán-Ungarn sind zugleich keine sicheren Staaten mehr, in der sich Flüchtlinge menschenwürdig aufhalten können. Insofern sind jene, die immer noch das Einhalten der Dublin-Bestimmungen fordern, Realitätsverweigerer.
Es ist Realität, dass nicht Flüchtlinge in erster Linie die Finanzkraft westeuropäischer Länder überstrapazieren. Würden Finanztransaktionen ausreichend besteuert, würden Superreiche nicht Steuern hinterziehen, würde in vielen Bereichen nicht geprasst, es wäre so viel Geld vorhanden, um Menschen in extremen Notsituationen ein menschenwürdiges Leben bei uns zu ermöglichen. Realitätsverweigerer sind jene, die blind sind für fiskalische Maßnahmen der Umverteilung und einer Besteuerung auf der Grundlage der Solidarität. Ein mächtiges Europa mit 500 Millionen Einwohnern ist durch eine Million Flüchtlinge nicht in seiner Existenz bedroht.
Es ist Realität, dass die Armuts- und Kriegsflüchtlinge aus Ländern kommen, in denen die Militärinterventionen der USA oder Russlands in den vergangenen Jahrzehnten Zerstörung und Unfrieden mit sich brachten, oder aus Ländern, die durch den neoliberalen Wirtschaftsimperialismus der reichen Länder des Nordens kaputt gewirtschaftet worden sind. Realitätsverweigerer sind jene, die nicht erkennen wollen, dass der vorherrschende Lebensstil der Menschen in Europa zur Verelendung und damit zu Fluchtbewegungen in anderen Ländern führt.
Es ist Realität, dass der Beitrag der Industrieländer und jedes einzelnen zur Klimaveränderung noch viel größere Fluchtbewegungen verursachen wird, wenn es nicht gelingt, die Erderwärmung einzudämmen. Schon jetzt ist im Nahen Osten, insbesondere in Syrien, die Dürre und der Kampf um das Wasser Nährboden für gewalttätige Auseinandersetzungen. Realitätsverweigerer sind jene, die auf der einen Seite vor den Flüchtlingen warnen, auf der anderen Seite sich aber als Befürworter einer uneingeschränkten Autofahrerkultur ausgeben.
Es ist Realität, dass für Christen – wie Angela Merkel mit Bezug auf das C in ihrer Partei meinte – die Verpflichtung zur Solidarität mit den Flüchtlingen zur Identität gehört. Wer christliche Nächstenliebe mit völkischem Nationalismus verwechselt, verkennt die Realität christlicher Existenzweise. Nicht der „Stephansdom“ ist Symbol des „Abendlandes“ im Sinne eines Abwehrkampfes gegen den Islam, sondern jede Kirche kann nur Symbol für die Liebe zu den Fremden und Flüchtlingen sein. Christliche Werte werden nicht, wie ein ungarischer Bischof meinte, durch ein „Invasion muslimischer Flüchtlinge“ bedroht, sondern durch Politiker, die mit dem Kreuz in der Hand vor einer Islamisierung Europas warnen und damit auf Stimmenfang gehen.
Es ist Realität, dass Fremdenhass – so eine Vielzahl an soziologischen Untersuchungen – meist mit mangelnder Bildung zusammen hängt. Man ist – gelinde gesagt – zu blöd, um sich in die Lage von Bürgerkriegsflüchtlingen hinein zu versetzen oder kennt auch nicht die Geschichten von Flucht aus der eigenen Heimat. Realitätsverweigerer sind jene, denen es an Einfühlungsvermögen und Geschichtsverständnis mangelt.
Es ist Realität, dass nicht DER Islam gewalttätig und böse ist, dass nicht DIE Muslime eine Gefahr für die „europäische Kultur“ darstellen würden, sondern dass ein europäisch geprägter Islam durchaus auch integraler Teil in diesem vereinten Europa sein kann. Realitätsverweigerer sind jene, die mit Blick auf den Islam zu keinen Differenzierungen fähig sind, für die Muslime gleich ein potenzielle Terroristen seien. Wenn gegenüber den Flüchtlingen der Generalverdacht erhoben wird, sie würden den radikalen Islamismus importieren, dann ist dies letztlich eine Verdrehung der Wirklichkeit, da eben diese Flüchtlinge vor dem radikalen Islamismus geflohen sind.
Es ist Realität, dass ein guter Teil der Zivilgesellschaft eine berührende Willkommenskultur mit den Flüchtlingen pflegt. In unserem Land gibt es kaum ein Heim, um das sich nicht auch ein „Freundeskreis“ gebildet hätte, wo sich Bürger und Bürgerinnen um „ihre“ Schutzbefohlenen kümmern. Kein Flüchtling müsste in Österreich in Zelten schlafen. Zelte für Flüchtlinge oder gar Flüchtlinge, die im Freien schlafen, sind hingegen zynischer Ausdruck einer Realitätsverweigerung. Wenn ein FP-Nationalratsabgeordneter die Stadt Hall bezichtigt, Asylwerber bei der Wohnungsvergabe gegenüber „Einheimischen“ zu bevorzugen, so ist dies nicht nur Realitätsverweigerung, sondern Lüge im Dienste der Aufhetzung.
Um die Realität zu erkennen, ist es wichtig, genau hinzuschauen. Der Blickwinkel Jesu öffnet dabei die entscheidenden Perspektiven. Dann erscheinen nicht mehr die Flüchtlinge das Problem, sondern die politischen Kräfte und internationalen Aktivitäten des militärischen-industriellen Komplexes. Der Reiche wird sich selbst zum Problem – so eine Gleichniserzählung Jesu – wenn er mit all seinem Reichtum durch ein Nadelöhr schlüpfen möchte. (Mk 10,25) Aus dieser Perspektive beflügelt der Wunsch zu helfen zum Mantra „wir schaffen das“ (© Angela Merkel) und nicht zur Resignation in Gestalt des bayrischen Ministerpräsidenten. Flüchtlinge erscheinen dann als Chance der eigenen Umkehr zur grenzenlosen Mitmenschlichkeit. Das griechische Wort für „Umkehr“ aus dem Wortschatz Jesu lautet „Matanoia“ – das bedeutet eine andere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Würde Jesus heute leben, so würde er wohl auch von seinen Feinden als „Realitätsverweigerer“ verurteilt werden, weil sie selbst unfähig sind, die Realität zu sehen, oder weil sie Profiteure dieser Realität sind.
Klaus Heidegger, 10. Oktober 2015
Danke für diese klaren Worte! Ich fürchte nur, dass die verhetzten FPÖ-Wählerinnen so etwas nicht lesen werden und vielleicht auch nicht verstehen wollen ….
Trotzdem ist es gut, sich des eigenen Standpunktes immer wieder zu vergewissern, um sich gegen die Angst-Macherei zu immunisierten.
Herzliche Grüße
Ingrid Jelem
Ich stimme dem Kommentar über sehr weite Strecken zu. Was den Islam betrifft, so tritt dieser den Menschen in den vergangenen Jahren in einer Form entgegen, die auch Angst machen kann. Es ist daher schon notwendig die muslimischen Flüchtlinge auf die Umstände hinzuweisen die Europa so einladend gemacht haben und das ist vor allem ein Rechtsstaat, der sich aus einer Auseinandersetzung um Demokratie und Menschenrechte heraus entwickelt hat. Hier gilt es schon mit festen Haltungen etwaigen Tendenzen zur Relativierung dieser Errungenschaften durch andere Rechtssnormen zu begegnen. Also Klarheit zu schaffen, denn ohne dieser Klarheit kommt es gewöhnlich zu Verwirrungen.
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