Eine der Lesungen zum Allerheiligenfest ist aus dem Buch der Offenbarung, Kapitel 21,1-3: „Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ Meine Gedanken kreisen bei diesen Worten nicht um die Frage, was wohl nach dem leiblichen Tod sein könnte. Ich bin gedanklich so gar nicht bei den klassischen Denkstrukturen von einem jenseitigen Leben mit Bildern von Himmel, Fegefeuer und vielleicht auch Hölle. Wenn in dieser Stelle aus der Offenbarung des Johannes von Tränen die Rede ist, dann denke ich an die Tränen der Kinder von Flüchtlingsfamilien, die mit Schlagstöcken irgendwo an der mazedonisch-griechischen Grenze zurück geprügelt werden. Wenn vom Tod die Rede ist, dann denke ich an die Menschen, die auf der Überfahrt irgendwo in der Ägäis zwischen der Türkei und einer griechischen Insel in den vergangenen Tagen ertrunken sind. Wenn von der Mühsal die Rede ist, dann denke ich an die dehydrierten, ausgehungerten, frierenden Menschen, die bis zu den „technischen Sicherungsanlagen“ von EU-Staaten kommen und deren Weiterfahrt in sichere Länder erschwert wird. Und bei all diesem Nachdenken frage ich mich auch, wo die Wohnung Gottes unter den Menschen sei. Dann entdecke ich diese göttlichen Wohnungen in Bereichen der Zivilgesellschaft, im Engagement Tausender Menschen für die Flüchtlinge. Die Wohnungen Gottes unter den Menschen sind die Flüchtlingsheime vor Ort, die Auffanglager, wo es Decken, warmes Essen und medizinische Erstversorgung gibt. Da sehe ich heute, was es bedeutet: „Und Gott wird bei ihnen sein und Tränen werden getrocknet.“
Klaus Heidegger, Allerheiligen 2015