Blätter im Herbst – Eine Blattmeditation

 

blatt-weiterleben1Ein Blatt im Herbst auf meiner Hand.
Ich blicke es an:
dieses Wunderwerk der Evolution,
dieses Minikraftwerk,
diese kleine Fabrik zum Herstellen von Nährstoffen.

Rot-braun-gelb-orangefarben ist es nun.
Die grüne Farbe ist gewichen.
Noch schnell hat das Blatt sein Chlorophyll
für den Baum hergegeben,
damit er Kraft hat in der Winterzeit,
– wie Jesus und jeder Mensch,
der sich für andere hergibt,
so das Blatt:
Es hat den Baum genährt,
hat durch Photosynthese
das Licht der Sonne
in Energie für den Baum gewandelt
und das Kohlendioxid gebunden.

So kann ich, so kannst du
ein grünes Blatt sein,
andere nähren,
andere stärken,
selbst Schädliches in Gutes verwandeln,
das Licht Gottes empfangen.
Mit Gottes Licht
können wir unseren Alltag verwandeln in Erfahrungen vom Reich Gottes.
So können wir ein grünes Blatt sein,
können Kraft und Energie den anderen weitergeben,
wenn wir bereit sind
uns nach dem Licht zu strecken.

Nur ein einzelnes Blatt lässt keinen Baum wachsen,
nur die vielen Blätter geben dem Baum Stärke.
Wir blicken auf das Laub,
auf Menschen um uns,
die für andere waren und sind,
die für uns da waren
und vor uns gestorben sind.
Ihre Energie kann nie verloren gehen.

Die Zeiten der Sonne sind spärlicher geworden.
Die Kälte nimmt zu.
Das Blatt muss abgeworfen werden,
damit der Baum Energie spart und
neues Leben entstehen kann.

Auch wir müssen uns immer wieder befreien von Dingen und Gefühlen,
die uns belasten – das spart Energie.

Die Zellen zwischen Blattstiel und Zweig sterben ab.
Es bildet sich Korkschicht.
Das Blatt trocknet aus,
bricht an der Korkschicht und da entsteht das neue Wunder.
Auferstehung in der Natur.
Die neue Blattknospe wächst aus der Narbe.
Sinnbild von Sterben und Neubeginn.

Immer schon war im Blatt
das orange Karotin und das gelbe Xantophyll,
auch wenn das Blatt ganz grün war.
Immer schon ist uns die Sterblichkeit in das Menschsein hineingelegt.
Auch wenn wir jetzt grün sind:
die roten und gelben und orangenfarbenen Pigmente sind in uns.

Selbst wenn das Blatt am Boden ist,
wird es den Baum wieder nähren,
wird zum Humus,
aus dem wieder neues Leben wächst.
So auch unser Leben:
ein aus der Erde kommen
und in die Erde zurückkehren.
Nie kann unsere Energie verloren gehen.

Klaus Heidegger