2016, der 1. Jänner
Guter Rutsch oder gutes Rosch-ha-Schanna
Ich möchte nicht ins Neue Jahr „gerutscht“ sein und wundere mich wieder, warum sich kollektiv alle Menschen rundherum einen „guten Rutsch“ zum Jahreswechsel gewunschen haben. Ins Neue Jahr zu rutschen, scheint mir selbst nicht wünschenswert zu sein. Da will ich lieber achtsam hinein gehen, mit Bedacht und Sorgfalt. Dass der Wunsch „guten Rutsch“ etymologisch mit dem jüdischen Neujahrsfest Rosch-ha-Schanna zu erklären ist, wissen wohl heute die wenigsten mehr, die sich einen „Rutsch“ gewunschen haben. Terminlich würde es ja nicht mehr stimmen, würde ich als prosemitische Antwort auf die „guten Rutsch“-Wünsche nun mit einem „gutes Rosch-ha-Schanna“ antworten, weil dieses kalendermäßig schon einige Wochen vorher war. Der Gedanke an den jüdischen Ursprungssinn tröstet mich, dass vielleicht der Wünschende sich doch nicht wünscht, dass ich in einem buchstäblichen Sinne rutsche.
Seltsam erscheint mir auch die allgegenwärtige Kultur des „Prosit“, die meist mit Sekt und dem Erklingen von Akohol-Gläsern in Verbindung gebracht wird. So steht am Beginn eines Neuen Jahres die Sanktionierung eines gepflegten Alkoholkonsums, die mir als Pädagoge etwas bitter aufstößt.
Irgendwie komme ich mir am Beginn eines Jahres wieder als jemand vor, der scheinbar kulturell Selbstverständliches wie in einem Vexierbild auch von seiner kritischen Seite wahrnimmt.
Pro-sit“, wünsche ich dennoch, und denke ans Lateinische. Es möge sein für dich … es möge in Erfüllung, was dir gut tut, möge dein Leben gelingen. In diesem Sinne also PROSIT!
ausgerutsch im Öl
Das Neue Jahr beginnt mit erschreckend niedrigen Diesel- und Benzinpreisen an den Tankstellen – unter einem Euro, so sah ich es, als ich heute morgens mit dem Rad an Zapfsäulen vorbeifuhr. Drei Wochen nach dem Weltklimagipfel erweist sich einmal mehr, wer die weltbeherrschenden Mächte sind: Nicht Politiker mit ihrem Versprechen, die Treibhausgasemissionen zu senken, sondern die Öl- und Autoindustrie, die ihren Profit auf Kosten von Mensch und Umwelt machen, und die Massen, die sich zu deren Sklaven gemacht haben. Ich will nicht euer Sklave sein, mache ich mir zum Vorsatz für 2016. Ich will auch nicht aufhören, dagegen anzuschreiben, was ich besser kann als reden, auch wenn solche Kritik verknüpft ist mit der unangenehmen Situation, nicht verstanden zu werden, oder nicht verstanden werden zu wollen, oder als „Moralapostel“ bezeichnet zu werden. Beim Radfahren nehme ich die unerträglichen Dinge links und rechts meines Weges noch intensiver wahr. Auf den Feldern lagen die Überreste von Feuerwerken – viele hielten sich nicht an den Aufruf umweltbewusster Gruppierungen, auf die ökologisch schädliche Knallerei zu verzichten, oder an die Hinweise, das Geld lieber Flüchtlingsinitiativen zu geben. Man dürfe doch noch seinen Spaß haben, schrieb mir jemand auf facebook. Ich schrieb zurück: Spaß ja, aber nicht auf Kosten von anderen Menschen, Tieren und der Umwelt.
Zu alledem passt die Inszenierung der „Fledermaus“ im Tiroler Landestheater am Silvesterabend. Ich bin kein Operetten-Kenner, kein Strauß-Fachmann, doch vielleicht hat ebendieser Komponist doch damals noch an Gesellschaftskritik gedacht, als er ein Stück schrieb, in dem es um liederlich-geile Männer, um hinterlistige Frauen, um Standesdünkel und Korruption ging. Davon war im Landestheater am Silvesterabend kaum mehr etwas herauszulesen. Es dominierte die Schunkelmusik, eine Art gehobenerer Musikantenstadl mit abgeflachten Späßchen, Unterhaltung ohne Tiefgang, Beruhigung der Menschen in einem ausverkauften Haus, die es einfach „fein“ haben sollten, um ungestört ins Neue Jahr hinein zu rutschen und weiter so zu schunkeln.
Klaus Heidegger