Verpflichtender Ethikunterricht – freiwilliger Religionsunterricht. Kritik am Modell von Harald Walser und dem Modell der Grünen

 
Sehr geehrter Bildungssprecher der Grünen, lieber Dr. Harald Walser!
Als ich in den 80er-Jahren in der Gründungsphase der grün-alternativen Parteien aktiv war, wählten wir „Basisdemokratie“ als eine der Säulen grüner Programmatik und Praxis. Zur basisdemokratischen Partizipation zählt das genaue Hinhören auf das, was „an der Basis“ erfahren und gewünscht wird. Was denken sich also Lehrer und Lehrerinnen, Eltern, die ihre Kinder an den Schulen haben, und vor allem Schüler und Schülerinnen, also lauter Menschen, unter denen nicht wenige grün Wählende und Aktive sind, über die jüngste Pressekonferenz von Harald Walser, in der festgestellt wurde, dass es grüne Intention sei, statt eines konfessionellen Pflichtfaches Religion einen verpflichtenden Ethikunterricht einzuführen? Obwohl ich auch ein Vertreter der Berufsgemeinschaft der Religionslehrer und Religionslehrerinnen an den AHS/BHS/BMHS bin, schreibe ich zunächst hier in meinem eigenen Namen über die Mängel und Widersprüche der grünen Vorstellungen in dieser Causa.
Der grüne Vorschlag geht letztlich in die Richtung, dem Ethikunterricht eine Vorrangstellung gegenüber dem Religionsunterricht einzuräumen. Ethikunterricht soll verpflichtend sein, konfessioneller Religionsunterricht freiwillig. Wenn dies eingeführt würde, würde es de facto zur weitgehenden Abschaffung des Religionsunterrichtes führen. Zumindest implizit steckt hinter dem grünen Konzept die Annahme, dass Ethik wichtiger als Religion sei, oder gar, wie Sie es als Bildungssprecher formulierten, dass Religion zur „Segregation“ (zit. in Tiroler Tageszeitung, 13.1.2016) beitrage.
Ist Ethik wichtiger als Religion, müssen wir uns also fragen? Die jüngsten Anschläge in Istanbul, Paris, Beirut oder Bagdad, die Brutalität der Terrorgruppen des selbsternannten „Islamischen Staates“ scheinen auf den ersten –nur oberflächlichen – Blick jenen Stimmen Recht zu geben, die den Vorrang der Ethik vor der Religion propagieren. Erstens jedoch zeigt sich, dass unterschiedliche ethische Positionierungen genauso zu Trennungen und Konflikten führen können. Um es an einem Beispiel fest zu machen: Sowohl die Aufnahme von Flüchtlingen wie die Abschottungspolitik werden ethisch gerechtfertigt. Während die einen, wie die Grünen, sagen, man müsse gegenüber den Flüchtlingen Humanität zeigen, argumentieren andere, dass die Aufnahme von Flüchtlingen zu Zerreißproben in den Aufnahmeländern führen und auf Dauer den Frieden in diesen Ländern gefährden würde. Aus religiöser Sicht, so könnte nun argumentiert werden, gibt es aber nur eine Position. Alle Religionen betonen im Kern die Gastfreundschaft und die Verpflichtung, den Notleidenden zu helfen. Gerade diese Position wird im Religionsunterricht mit den Schüler und Schülerinnen erarbeitet. Analog lässt sich auch in der Frage der Gewalt argumentieren: In der Mitte aller großen Religionen steht die Botschaft vom Gewaltverzicht und der Verurteilung von Gewalt. Demgegenüber wurden die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte ethisch gerechtfertigt. Jeder Krieg wird letztlich ethisch gerechtfertigt. Russland führt ethische Argumente für den Bombenkrieg zur Unterstützung der Truppen von Assad an. Wenn die USA und ihre Verbündeten irgendwo in einem arabischen Raum eine Bombe detonieren lassen, so folgen die ethischen Rechtfertigungen sofort. Man müsse ja tough sein im Kampf gegen den Terrorismus. Wenn Paris die Europäische Menschenrechtskonvention im Kampf gegen den Terror teilweise aufgehoben sehen will, dann geschieht dies mit ethischen Argumenten. Welche Ethik ist also richtig? Die Kraft zum Gewaltverzicht kann jedenfalls wesentlich aus einer religiösen Grundhaltung – beispielsweise durch eine Orientierung an dem Vorbild Jesu Christi – entspringen. Kriegerische Gewalt lässt sich aus religiöser Sicht jedenfalls nicht rechtfertigen. Dies sind nur einige Beispiele, durch die sichtbar wird, wie sehr durch einen aufgeklärten Religionsunterricht eine Bildung geschieht, die sich entlang der Werte der Humanität, der Gewaltfreiheit und Naturverbundenheit orientiert. Viele muslimische Theologen und Theologinnen haben beispielswiese in den letzten Monaten immer wieder aufgezeigt, dass islamistische Entwicklungen gerade aus einem Mangel an religiöser Bildung geschehen. Terroristen würden den Koran gar nicht kennen, sondern ihn aus einer Unkenntnis heraus für ihre Grausamkeiten missbrauchen. Wer den Koran wirklich kennen lernt, der tötet nicht. Wir brauchen also nicht weniger islamischen Religionsunterricht als wohl wirksamste „Waffe“ gegen den Islamismus, sondern mehr. Gerade deswegen findet am heutigen Tag an der Innsbrucker Universität die Antrittsvorlesung eines Professors für Islamische Religionspädagogik statt.
Als ehemaliger Direktor müssten Sie wissen, was die Religionslehrer und Religionslehrerinnen an der Schule unterrichten. Es geht nicht darum, Koransuren oder biblische Texte zu indoktrinieren, den Schülern und Schülerinnen dogmatische Positionen einzubläuen etc. Vielmehr geht es darum, die religiöse Grammatik zu verstehen als Hilfestellung, um die Welt in einem positiven Sinne mitzugestalten. Nicht von ungefähr sind Religionslehrende mit ihren Schülern und Schülerinnen meist dort zu finden, wenn es um irgendwelche Initiativen im Flüchtlingsbereich, der Bewahrung der Schöpfung oder des entwicklungspolitischen Engagements geht
Frieden in der Welt, so möchte ich abschließend postulieren, entsteht nicht durch weniger Religion, sondern indem in den Religionen Kräfte und Haltungen entdeckt werden wie Achtsamkeit, Mitgefühl und Gewaltverzicht. Es kann und darf nicht darum gehen, Religion und Ethik gegeneinander auszuspielen, sondern ihre Verwiesenheit aufeinander zu entdecken. Dies hat auch Konsequenzen für das Bildungssystem. Gerade angesichts religiöser Fundamentalismen brauchen wir ein Mehr an aufgeklärter religiöser Bildung, eine kritische Auseinandersetzung mit den heiligen Schriften und eine rationale Auseinandersetzung mit den religiösen Grundlagen.
Wo ich mit Ihnen gemeinsam nachdenken möchte, ist die Frage, wie ein Religionsunterricht angesichts der Multireligiosität gestaltet werden kann, so dass es zu keiner „Segregation“ kommt, sondern zu einem Miteinander, wo interreligiöses Lernen gelebt und gelernt wird. Merkwürdig finde ich Ihre getätigte Aussage, dass nur eine „staatliche Lehrkraft“ den von Ihnen favorisierten Unterricht ausführen könne. Bekanntlich sind wir als Religionslehrende immer auch jetzt schon in einem staatlichen Dienstverhältnis. Sind Religionslehrende, die an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen als Religionsexperten und –expertinnen ausgebildet wurden, in Ihren Augen nicht mehr geeignet, in dem von Ihnen anvisierten Fach zu unterrichten?
Abschließend möchte ich – mit Bezug auf meine basisdemokratische Einleitung – Sie und damit auch den grünen Think-Tank im Bildungsbereich einladen, nicht gegen uns Religionslehrende Modelle zu entwickeln, sondern im Dialog mit uns, die wir Tag für Tag in den Schulen tätig sind.

Mit freundlichen Grüßen
Klaus Heidegger

Kommentare

  1. Lieber Kollege Heidegger, Danke für die umfassende Replik. In der Tat: es gibt diskussionsbedarf. Ich habe über dieses Thema – entgegen Ihrer Annahme – schon mehrfach mit ReligionslehrerInnen diskutiert. Zuletzt auf Einladung in Salzburg. Ich bin nicht gegen den RU, sondern für einen Religionen (!)- und Ethikunterricht. Ich habe daher durchaus erfahren, „was „an der Basis“ gewünscht wird“. Ihre Meinung ist verbreitet, aber nicht die aller KollegInnen. In diesem Sinn: stets zur Diskussion bereit, mit herzlichen Grüßen Harald Walser

  2. Geschätzter Kollege Heidegger!
    Danke für die umfassende Stellungnahme auf Ihrem Blog. Ich bin auf meinem Blog schon mehrfach auf die Argumente eingegangen und möchte das hier nicht wiederholen. Viele Ihrer Behauptungen stimmen aber schlicht und einfach nicht:
    „… dem Ethikunterricht eine Vorrangstellung gegenüber dem Religionsunterricht einzuräumen“ – Nein, ich fordere ja dezidiert einen „Ethik- und Religionenunterricht“.
    „…, dass Religion zur „Segregation“ beitrage“ – Nein, ich spreche nicht von Religion, aber der konfessionelle RU segregiert natürlich.
    „… gegen uns Religionslehrende Modelle entwickeln“ – Nein, ich habe viel mit RU-Lehrkräften in allen Bundesländern diskutiert. Das von mir vorgeschlagene Modell wird vom Theologen Univ.-Prof. Dr. Anton A. Bucher von der Universität Salzburg explizit unterstützt. Wer sich weiter über meine Position informieren möchte: http://haraldwalser.at/es-braucht-ein-eigenes-fach-ethik-und-religionenunterricht/
    Jederzeit stehe ich – auch für eine öffentliche – Diskussion zur Verfügung.
    Herzliche Grüße
    Harald Walser

    1. Lieber Kollege Harald Walser,
      danke jedenfalls für die Diskussionsbereitschaft. Ich teile Ihr Bemühen nach einer Suche, wie ein Religionsunterricht an den Schulen aussehen könnte. Positiv an Ihrem Ansatz finde ich tatsächlich, dass es Ihnen nicht darum geht, Religion und Ethik in zwei unterschiedliche Unterrichtsfächer zu trennen, wie dies in den Konzepten von Schmied und Co oder auch im gegenwärtigen Schulversuch Ethikunterricht geschieht. Die Frage, die es zu diskutieren gilt, ist freilich, welche Verantwortlichkeit die Kirchen und Religionsgemeinschaften für ein solches Fach haben und worin deswegen auch die Rolle der ReligionslehrerInnen liegt.
      Aber jetzt schreibe ich wieder theoretisch. Eigentlich wollte ich kurz von der heutigen Praxis erzählen, einer Doppelstunde Religion in der 6. Klasse, eine kleine Klasse mit 13 SchülerInnen, in der aber neben den katholischen SchülerInnen zum Glück eine serbisch-orthodoxe Schülerin ist und ein muslimischer Austauschschüler. Das Voneinanderlernen war wieder sehr intensiv. Nur eine Sequenz möchte ich wieder geben: Wir reden über die Bedeutung von Jesus im Islam. Da kommt die Frage von S. auf: „Wenn im Islam Jesus ein Prophet ist, warum töten dann Muslime Christen?“ Die Antwort des muslimischen Schülers war sofort da: „Whoever kills a Christian, could not be called a Muslim.“ … Weil ich ein interreligiöses Setting in meinem Religionsunterricht habe, ist täglich neu solches interreligiöses Lernen möglich. Deswegen möchte ich auch nicht, dass Religionsunterricht verschwindet, sondern sich in interreligiöser Dimension erweitert, zugleich aber in der Verantwortung der Kirchen und Religionsgemeisnchaften bleibt. Aber dazu mehr in: http://unipub.uni-graz.at/oerf/periodical/pageview/153596?lang=en

      Mlg

  3. Lieber Klaus,
    danke für deine zutreffenden Worte. Ich bin gespannt, ob eine Reaktion seitens des Herrn Walser kommt. Liebe Grüße

    1. Lieber Johannes,danke für deine Antwort. Ja, es ist wichtig, dass wir unter uns ReligionslehrerInnen diese Frage gut diskutieren, ausgehend von unseren Erfahrungen an den Schulen.

  4. Wunderbares Beispiel! Das belegt haargenau, dass wir einen überkonfessionellen Ethik- und Religionenunterricht brauchen. Warum das in der Verantwortung der Kirchen bleiben soll, ist mir schleierhaft, denn das gemeinsame Unterrichten von katholischen SchülerInnen mit serbisch-orthodoxen und muslimischen hat im angegeben Beispiel zwar sehr gut funktioniert, ist aber gerade dort nicht vorgesehen und sogar gesetzeswidrig.

    1. Lieber Harald Walser! Es ist wichtig, dass wir an dieser Sache dran bleiben. Ja, es stimmt, es ist Aufgabe des Gesetzgebers Gesetze zu schaffen, die ein interreligiöses Lernen in den Schulklassen nicht nur zulassen, sondern geradezu fördern. Ich hoffe, dass diesbezüglich ein großer Konsens entsteht, in dem auch die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften eingebunden sind.

  5. Aus meiner Sicht gehört es zu den wichtigsten Dingen im Leben eines heranwachsenden jungen Menschen, dass er in ein glaubwürdiges Wertefundament hineinwachsen kann. Nicht jeder hat das große Glück, dies in seinem eigenen Elternhaus oder in seinem Umfeld vorzufinden.
    Werte zu vermitteln ist eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Aufgabe, und sollte daher ein Pflichtfach sein, an der alle gemeinsam, also unabhängig von Konfession oder Weltanschauung teilnehmen. Dazu ist eine ordentliche interdisziplinäre Ausbildung der Lehrer erforderlich, wobei Philosophie, Religionswissenschaft und Psychologie eine besondere Rolle spielen. An oberste Stelle ist aber die pädagogisch Kompetenz anzusehen, um Jugendliche in der Pubertät gut begleiten zu können, und um die Meinungsbildung im Spannungsfeld von Humanismus, Menschenrechten und diversen Religionen anregen zu können. Ich denke, dies sollten uns die Kinder wert sein.
    Herr Walser, ich möchte Sie ermutigen, sich unermüdlich für einen solchen Pflichtgegenstand einzusetzen, wie immer er auch genannt werden wird.
    Herr Heidegger, ich weiß Ihr Engagement für ein interreligiöses Lernen sehr zu schätzen, und bin mir darüber im Klaren, dass ein Großteil der Religionslehrer mit sehr viel Herzblut einen sehr wichtigen Beitrag zur Wertevermittlung beitragen. In Ihrem Beitrag des ÖRF zur Religionspädagogik kommen mir Gedanken zu Humanismus, Menschenrechte, aber auch Buddhismus etwas zu kurz.

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