Obergrenze für Nächstenliebe (Version 2)

Der frisch gekürte ÖVP-Präsidentschaftskandidat Andreas Khol beginnt seinen Wahlkampf mit einem politischen Copy and Paste: „Ich bin ein Freund der Nächstenliebe. Sie beginnt aber im eigenen Haus. Sie darf keine Fernstenliebe werden“, meinte Khol. (14.1.2016)
Dazu eine Erinnerung. Im Sommer 2013 führte die FPÖ einen gewohnt ausländerfeindlichen Wahlkampf und bediente sich dabei wieder aus dem Wortschatz der christlichen Religion. Da wurde auf Plakaten das religiöse Grundgebot „LIEBE deine NÄCHSTEN“ mit dem belehrenden Zusatz versehen „Für mich sind das unsere ÖSTERREICHER“. Unschwer war in diesem Zweizeiler von den Werbestrategen der „sozialen Heimatpartei“ die Großschreibung von drei emotional aufgeladenen Begriffen zu erkennen: LIEBE – NÄCHSTEN – ÖSTERREICHER. Wer der scheinbar Liebende ist, ließ das Plakat nicht offen. Der freiheitliche Parteichef blickte in einem der Werbeplakate strahlend in das Gesicht einer älteren Frau, die ihm liebevoll über die Wange streichelt, in einem anderen ist sein Gegenüber ein – sicherlich nicht zufällig – blondes Mädchen. HC Strache benützte nicht wie ein Kreuzritter das Kreuz, um gegen Ausländer oder Andersgläubige zu hetzen und die „christlichen Werte des Abendlandes“ zu verteidigen, sondern das biblisch-religiöse Grundgebot. Khol spricht nun ganz in diesem Sinne und sagt: „Charity begins at home – wir müssen zuerst auf unsere Leut‘ schauen.“ (Bei der ÖVP-Klubklausur, 14.1.2016)
Wenn Nächstenliebe zum Kampfbegriff gegen Flüchtlinge und für eine Obergrenze wird, wenn mit Nächstenliebe-Rhetorik Polemik gegen eine „Willkommenskultur“ betrieben wird, dann hat dies jedoch mit biblisch-christlichem Verständnis nichts zu tun. Im Gegenteil. In den Evangelien ist Jesus von Nazareth eindeutig. Auf die Frage, wer denn mein Nächster sei, stellt er in der bekannten Gleichniserzählung vom „barmherzigen Samariter“ (Lukas 10,25-37) fest: Der Nächste ist vor allem jener, der in Not geraten ist und der Hilfe bedarf. In dieser jesuanischen Lehrerzählung wird zusätzlich gezeigt, dass nicht die „Einheimischen“, nicht die Vertreter der „eigenen Religion“, sondern ein „Fremder“, ein „Andersgläubiger“ begreift, wer der Nächste ist und was Nächstenliebe wirklich bedeutet.
Die christliche Sozialethik und katholische Soziallehre bauen nicht auf Gruppenegoismus, sondern auf eine grenzenlose solidarische Ethik. In der jesuanischen Logik sind die Nächsten daher gegenwärtig vor allem die Flüchtlinge, die unter Lebensgefahr zu uns nach Europa kommen. Wenn sich also ÖVP wie FPÖ eines religiösen Vokabulars bedienen, täten sie gut daran, dieses auch wirklich zu beherzigen und nicht nach ihrem Gutdünken umzudeuten. Die Kirchen in Österreich, aufbauend auf ihrer praktischen Arbeit mit den „Nächsten“, haben klar gemacht, dass sie mit einer Politik auf Kosten von Flüchtlingen oder Migranten und Migrantinnen und mit antiislamischen oder antisemitischen Untertönen keine gemeinsame Basis finden. Eine missbräuchliche Verwendung religiöser Symbole und religiöser Sprache für eine inhumane Politik wird abgelehnt.
Das Gebot „christlicher Nächstenliebe“ lässt sich nicht beliebig auslegen. Es passt einfach nicht zusammen, wenn damit eine Obergrenze für Flüchtlinge gerechtfertigt werden soll, wie dies gegenwärtig in der ÖVP geschieht. Es ist falsch, wenn Nächstenliebe als „Inländerliebe“ („unsere Österreicher“) uminterpretiert wird, weil sich dieses allen Religionen gemeinsame Grundgebot an der Würde und dem Wert jeder Person orientiert, nicht aber an Herkunft oder ethnischer Zugehörigkeit. Wer sich implizit oder explizit auf das Christentum bezieht, und gerade das tun auch immer wieder ÖVP-Politiker, kann Nächstenliebe nicht eingrenzen. Jesus und die Evangelien greifen damit den Faden auf, der sich schon in den jüdischen Schriften des Alten Bundes findet. Dort wird Nächstenliebe stets im Kontext mit den Schutzrechten für die Armen und Fremden gesehen. Papst Benedikt schrieb in seiner ersten Enzyklika (Deus caritas, 2005) über die Nächstenliebe folgende Deutung: „Nächstenliebe besteht ja darin, dass ich auch einen Mitmenschen, den ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, von Gott her liebe.“ Notabene: Selektive Nächstenliebe ist im Widerspruch zur Botschaft des Evangeliums. Insofern ist der Khol’sche Begriff „Fernstenliebe“ dem biblischen Denken völlig fremd.
Klaus Heidegger, Jänner 2016

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