Das Pfingstwunder der Bibel
Es hat sich in der Hauptstadt Judäas ereignet. In Jerusalem. Zur Zeit der Weltherrschaft des Kaisers Tiberius. Etwas mehr als 50 Tage, nachdem Jesus von Nazareth als Rebell und Aufrührer auf grausame Weise hingerichtet worden war, 50 Tage, nachdem dieser Jesus erstmals seinen Jüngern und Jüngerinnen als Auferstandener begegnet ist. Was ist geschehen bei diesem jüdischen Wochenfest?
Situation der Angst und des Eingeschlossenseins
Immer noch geschockt von den Ereignissen sitzt die frühe Nachfolgegemeinschaft Jesu zusammen. Im Johannesevangelium heißt es so: „… als die Jüngerinnen und Jünger hinter geschlossenen Türen saßen aus Angst vor der jüdischen Obrigkeit, da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: `Friede sei mit euch!`“ Der Auferstandene hält sich nicht an die Gesetzmäßigkeiten eines Grenzmanagements. Seine Qualität ist das Grenzenüberwindende, das Niederreißen von Grenzen. Die Angst voreinander stünde einem Verständnis füreinander im Wege. Wenn Jesus in dieser Auferstehungslegende nachdrücklich gleich zweimal den Frieden zu spricht, so ist dies politische Logik. Nicht aus dem Verschließen folgt der Friede, sondern aus dem Öffnen.
Die Jüngerinnen und Jünger wussten damals: Jesus ist auferstanden. Jesus ist ihnen auch schon erschienen. Auferstanden in ihren Köpfen und Herzen, in ihrem gemeinsamen Mahlhalten, im Einstehen füreinander. Ihre Angst ist damit nicht gewichen. Der Schock über Jesu Hinrichtung sitzt ihnen noch tief in den Knochen. Es war ein brutaler, ein feiger Mord, typisch für die römischen Besatzungstruppen, die das Land mit äußerster Gewalt unter Kontrolle hielten. Abertausende sind von den römischen Soldaten gekreuzigt worden. Jüdische Mädchen und Frauen sind misshandelt oder als Sklavinnen verkauft worden. Jene, die mit Jesus gezogen sind, sind gefährdet.
Da hocken nun die Jünger und Jüngerinnen in einem armseligen Haus in Jerusalem. Wir kennen einige ihrer Namen. Es sind durchwegs Leute der Unterschicht. Da war der Jünger Bartimäus. Als blinder Bettler hatte ihn Jesus in die Nachfolge berufen. Weit unter dem Existenzminimum hatte er gelebt. Oder der Bruder von Jesus, Jakobus, oder die Söhne des Zebedäus, und Petrus und Andreas, ehemals Fischer aus dem Norden des Landes. Und natürlich sind da auch die Frauen, die Galiläerin Maria von Magdala, eine besondere Gefährtin von Jesus, und da sind Maria und Martha aus Betanien, Maria, die Mutter Jesu, und noch viele andere. Sie alle waren ohne Sozialprestige, ohne gesellschaftliches Ansehen, ohne materielle Sicherheiten. Sie kannten die Not in Palästina aus eigener Erfahrung und als Betroffene. Sie wussten von der groben Ungerechtigkeit. Die Botschaft ihres Meisters öffnete ihnen die Augen, um die Ausbeutungsverhältnisse zu durchschauen. Sie träumten zugleich von einem messianischen Gottesreich, in dem – wie es Maria so wunderbar besang – die Herrschenden vom Thron gestürzt, die Habenichtse aber emporgehoben werden.
Wer solche Träume und politischen Ziele hatte, galt als gefährlich. Jeden Moment mussten die Anhänger und Anhängerinnen Jesu damit rechnen, dass sie ebenfalls wie Jesus als „Revoluzzer“ und Unruhestifter verurteilt werden könnten. Kein Wunder also, dass sie vorsichtig waren, dass sie sich nicht hinauswagten.
Pfingsten überwindet Mauern und Grenzen durch Entängstigung
Die pfingstliche Botschaft wirkt vor allem befreiend in einer Zeit, die vom Einmauern und Grenzenziehen geprägt ist. Dem Geist Gottes sind verschlossene Türen kein Problem. Seine Kraft überwindet Mauern, wie es schon in einem Psalm des Alten Bundes heißt: „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern …“. In einer Festung Europa mit neuen Festungsmauern auch im Inneren haben die pfingstlichen Texte notwendende Erinnerungsqualität. Die Multikulti-Welt ist kein Problem mehr, weil sich die Menschen in ihren verschiedenen Sprachen und Ethnien und Religionen verstehen wollen. Niemand sagt: „Du bist nicht Teil von uns.“ Wenn zwei Tage vor dem Pfingstfest 2016 wer behauptet, der Islam sei „nicht Teil von Österreich“, so ist dies gerade das Gegenteil einer pfingstlichen Erfahrung. Wenn ein anderer meint, der Islam „schreckt mich nicht“, so ist dies pfingstliche Entängstigung.
Pfingsten als Mut zum Aufbruch
Durch die Geistkraft ereignet sich das Unerwartete in eine Situation von Verzagtheit und Angst und Furcht hinein. Verzagtheit wird durch Mut ersetzt, Angst durch Zuversicht, und Furcht durch Furchtlosigkeit abgelöst. Das ist Pfingsten. Das ist die Gabe des Geistes. Die Konsequenzen sind unübersehbar. So plötzlich streifen die Jünger und Jüngerinnen ihre Ängste ab. Sie haben ihre Furcht vergessen. Die einfachen Bauern und Bäuerinnen aus Galiläa, die von der Jerusalemer Stadtbevölkerung abschätzig als ungebildet, als dumm, als unzivilisiert, als unrein betrachtet wurden, kaum würdig für das Wort Gottes, diese Analphabeten und Analphabetinnen entwickeln plötzlich ein enormes Selbstvertrauen. Weit machen sie nun die Türen auf. Furchtlos treten sie vor die anderen Menschen, die so zahlreich in Jerusalem waren. Diese Männer und Frauen aus der Unterschicht Palästinas wagen den Aufbruch. Stellvertretend für die anderen, so könnten wir jetzt in der Apostelgeschichte weiterlesen, tritt dann Petrus unerschrocken vor die Menge. Er bezieht sich auf den Propheten Joel und spricht vom Anbruch des messianischen Reiches. Das ist nichts weniger als eine soziale und politische Revolution, die die Verhältnisse völlig umgestaltet.
Pfingsten als konkrete Eutopie
Alles bloß Utopie? Eine charismatische Schwärmerei? Sind die Jünger und Jüngerinnen da bloß ausgeflippt? Nein. Wir müssen nur in der Apostelgeschichte weiter lesen, dann erfahren wir die unmittelbaren Auswirkungen von Pfingsten. Es sind die handgreiflichen Wirkungen.
Die Geistkraft Gottes bewirkt, dass die einzelnen Menschen Mut bekommen, dass sie den Aufbruch – das ist die Nachfolge Jesu – wagen können, dass sie die enorme Zuversicht bekommen, in die Fußstapfen Jesu zu treten. So geschehen Zeichen und „Wunder“ – nicht im Sinne von übernatürlichem Eingreifen, sondern durch die Tat von Menschen.
Der Geistkraft Gottes bewirkt zweitens, dass sich die einzelnen in Gemeinschaften zusammentun. Deswegen ist Pfingsten der Geburtstag der Kirche, der Geburtstag der christlichen Gemeinden.
Die Geistkraft Gottes bestimmt drittens die Art und Weise, wie die ersten Christen und Christinnen ihr Gemeindeleben gestalten: Diese Menschen in den urchristlichen Gemeinden, so schreibt Lukas, waren „ein Herz und eine Seele“. In die Kirche gehen, Christ sein, Christin sein, das war nicht – wie bei uns heute vielmals – eine bloß geistige Sache, ein schönes Wort, ein positives Feeling, ein Heraustreten aus der Welt in einen von der politischen Wirklichkeit gesonderten mythologischen Ort. Das war für die ersten Christen und Christinnen durch und durch handfest. Das hatte praktische materielle Konsequenzen. Darin liegt das Pfingstwunder, darin liegt die Gabe des Geistes: Die Menschen waren befähigt zur Gütergemeinschaft. „Sie hatten alles gemeinsam“, lesen wir in der Apostelgeschichte. Manche sprechen heute mit Bezug auf diese Stelle von einem Urkommunismus. Und das Wunder dieser ökonomischen Ordnung stellte sich sofort ein. Niemand unter ihnen litt Not. Jeder und jede hatte das, was er und sie nötig hatten. Ein sozialpolitisches Pfingstwunder.
Pfingsten erweist sich für die ersten Christen und Christinnen als soziale Revolution. Gerade in einer extremen Notsituation, in der die ersten christlichen Gemeinden waren, wiederholte sich das, was Jesus bereits in den Brotwundern zeigte. In Gemeinschaften, die sich am Prinzip des Teilens orientieren, werden die sozialen Spannungen aufgehoben. Das bedeutet, dass es keine mehr gibt, denen die Grundbedürfnisse versagt bleiben. Die Gabe des Geistes ist daher die Fähigkeit, eine Gesellschaft und eine Wirtschaft so zu gestalten, dass niemand mehr Not leidet und die zentralen Bedürfnisse aller Menschen erfüllt werden. Wer genügend Holz hat, macht daraus nicht Zäune, sondern erweitert die Tischplatte.
Pfingstwunder im Heute
Pfingstwunder im globalen Dorf, das wäre eine Abkehr von einer kannibalischen Weltordnung. Alle fünf Sekunden stirbt irgendwo auf dieser Welt ein Mensch an den Folgen von Hunger und Unterernährung. In unserem Land sind rund eine halbe Millionen Menschen ohne Erwerbsarbeit. Das Prekariat wächst, während der Reichtum der obersten Schicht sich vermehrt. Das große Teilen, das aus dem biblischen Pfingstwunder folgte, ist weit weg.
Furchtlosigkeit war Folge des pfingstlichen Wunders damals. Wer keine Furcht hat, wird sich nicht bis an die Zähne bewaffnen. In diesem Europa wird weiter kräftig gerüstet. Christen feiern Pfingsten und am Raketenschild an der NATO-Grenze zu Russland wird unvermindert weitergebaut. Das passt einfach nicht zusammen.
Die Jünger und Jüngerinnen Jesu wagten sich, vom Geist Jesu ergriffen, ohne Pfefferspray und Glockpistole unter die Menschen. Sie hatten keine Angst vor dem Fremden und nährten nicht die Ängste unter den Menschen.
Heute gilt es daher zu beten und zu hoffen: Möge die Geistkraft wie ein Wirbelwind Mauern niederreißen und die zerstörerischen Mechanismen unserer Wirtschaftsordnung verändern. Möge die Geistkraft wie ein sanfter Windhauch uns zum Teilen befähigen. Möge der göttliche Beistand uns mit Feuerzungen Mut zu Visionen geben, damit wir unsere Furcht und Angst überwinden können. Möge die Geistkraft uns zu Geschwistern machen. Möge uns der pfingstliche Geist die Furcht nehmen, so dass wir uns entwaffnen und die Feinde zu unseren Freunden machen.
Pfingsten 2016 (Klaus Heidegger)
Ja, das ist eine herausfordernde Pfingstbotschaft und Christentum das Leuchtturm sein kann, keineswegs einfach zu leben. Als Individuen könnte uns dieses Christentum wieder neues Leben einhauchen und die unsere Wohlstandsgesellschaft beleben. Allerdings wäre dies Wandlung verbunden mit Verzicht und teilen. Wir wurden aber vielfach trainiert auf ein katholisches Christentum – im Extremfall zu einem vom Kathechismus dominierten Katholizismus – gelernt durch eine Erziehung zur Vermeidung von Sünden und Einhaltung von Regeln, die uns an die Gesellschaft anpassen um nicht aufzufallen, sich nicht bloß ein- sondern vielmehr „unterordnen“. Der Geist des Neuen Testamentes ist durch die Anpassung an die Institution ersetzt und damit vom ursprünglichen Brausen zu einem leisen Säuseln geworden, das kaum mehr Bewegung entfachen kann.