„Ihr seid Kirche!“ Nie werde ich jene Situation vergessen, in der uns im Rahmen eines Einkehrtages mit einer Schulklasse im Bildungshaus St. Michael unser Bischof – es war damals Alois Kothgasser – besuchte, sich in die Runde der Schüler und Schülerinnen setzte, fast so, als sei er einer von ihnen, und sich sehr geduldig zuerst die ganze Bandbreite der gewohnten Kirchenkritik anhörte, die da ehrlich und manchmal wohl auch sehr undifferenziert aus dem Munde der 16-Jährigen kam. „Was meint ihr mit Kirche?“, fragte der Bischof die Schüler und Schülerinnen“ und wartete gar nicht auf eine Antwort. „So wie ihr dasitzt, miteinander nachdenkt, euer Leben teilt, miteinander feiert – so seid ihr Kirche …“, war die Antwort des Bischofs. Die Schüler und Schülerinnen hatten verstanden. Der Perspektivenwechsel war befreiend: weg von den für Jugendlichen so enttäuschenden Situationen in ihren Herkunftsgemeinden, weg von Liturgien, mit denen junge Menschen schon lange nichts mehr anfangen können, weg von so manchen kirchlichen Strukturen, die mehr Ärgernis als Hilfe sind, weg von leibfeindlicher Sexualmoral – und eine Hinwendung oder Kirchwerdung im Kontext der Klassengemeinschaft. Im letzten Jahrzehnt, seit ich an einem katholischen Oberstufenrealgymnasium unterrichte, habe ich versucht, aus dieser Perspektive zu arbeiten und zu leben: Kirche in der Handlungsmacht aller am Schulleben Beteiligten zu begreifen.
Faktum ist zunächst, dass selbst an unserer Schule1 nur mehr wenige Schüler und Schülerinnen in ihren Heimatpfarreien eingebunden sind und dort regelmäßig Gottesdienste besuchen. Schätzungsweise dürften es noch fünf bis acht Prozent sein. Die „Enttraditionalisierung“, von der Soziologen wie Ulrich Beck2 schon seit langem schreiben, ist im gesellschaftlichen Mikrokosmos Schule vor allem mit Bezug auf Kirche spürbar. Gerade in einer Zeit, in der Jugendliche mit ihrem Glauben in die Pubertät kommen und zu Recht alles in Frage stellen, bietet die Pfarrei keine Stütze mehr. Kirche ist nicht mehr gelebte Wirklichkeit mit Bezug auf ihre Pfarrgemeinde. Mein Eindruck ist, dass diese Situation von Jahr zu Jahr zunimmt. Ein Blick in die Sonntagsgottesdienste der Gemeinden, aus denen „meine“ Schüler und Schülerinnen kommen, zeigt tatsächlich, was inzwischen Realität ist: Die Jugend fehlt in den pfarrlichen Gottesdiensten. Der Auszug aus der real-existierenden Kirche beginnt mit jenem Alter, mit dem „Kinder“ heute durchschnittlich gefirmt werden, was wiederum das Firmalter mit 12 Jahren mehr als fragwürdig macht. Es entwickelt sich eine negative Dynamik: Je weniger Gleichaltrige in der „Kirche“, desto mehr werden sich noch verbliebene andere Jugendliche fremd in den Kirchenbänken neben Grauhaarigen oder Kindern fühlen, desto weniger wird sich die Sprache an Jugendlichen orientieren und ihre Lebenswelt zum Thema machen. Priester in der Rolle von Kirchenmanagern in überdimensionierten Seelsorgeräumen werden ohnehin weder Zeit noch Kraft für nicht-oberflächliche Begegnungen mit Jugendlichen – ihrer „Seelsorgeraumsjugend“ – haben und die Katholische Jugend, die sich von einer Bewegung zu einer Eventvermittlerin gewandelt hat, erreicht nur mehr marginal oder kurzfristig Jugendliche.
In dieser Situation ist Schule als Erfahrungsort und Realisation von Kirche gerade für Jugendliche von zentraler Bedeutung geworden. Dies entspricht wesentlich der Schulentwicklung des vergangenen Jahrzehnts, in dem die Schule nicht nur als Wissensvermittlerin definiert wird, sondern als Lebensraum,3 sowie der modernen Religionspädagogik, in der „die Erfahrungen der Menschen, ihre Biographie und ihre lebensweltlichen Bezüge“4 vor jeder katechetischen Vermittlung dogmatischer Wahrheiten stehen. Religionsunterricht ist demnach nicht länger „kirchlicher Unterricht“ im Sinne dessen, dass die Kirche senkrecht von oben in die Schule hineinwirkt, sondern in gewisser Weise Schul-Erleben als Kirche, die von innen her wächst und so begriffen werden kann. Wird die Klasse oder die Schule als kirchlicher Erfahrungsraum definiert und gestaltet,5 stellt sich die Frage nach den Grundvollzügen dieser Kirche und ihrer Leitung. Der Kürze wegen beschränke ich mich in dieser Ausführung auf den Erfahrungsraum Klasse. Hier kann der Grundvollzug Diakonia Länge mal Breite realisiert werden: wenn sich Schüler und Schülerinnen gegenseitig bei den Hausaufgaben helfen; einem kranken Schüler Unterlagen nach Hause gebracht werden; das Jausenbrot geteilt wird; die Klassendienste wie Tafelwischen et cetera ordentlich erledigt werden oder wenn die Klasse oder ein Teil der Klasse sich im Rahmen von Sozialprojekten engagiert.6 Koinonia als zweite ekklesiale Grundfunktion – Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftserfahrung – entspricht wohl dem zentralsten Bedürfnis der Jugendlichen. Mit dieser pastoralen Kategorie wird besonderes Augenmerk auf die Gestaltung des Unterrichtsalltags gelegt werden, in dem die soziale Dimension des Lernens besondere Berücksichtigung findet.7 Martyria als weiterer Grundvollzug – das Zeugnisgeben als gelebte und gesprochene Verkündigung – geschieht wesentlich im Religionsunterricht, jedoch nicht nur dort. Wenn Schüler und Schülerinnen mit ihren Lehrkräften an einer Autobahnblockade teilnehmen oder gemeinsamen mit Bischof und Erzbischof mit Gehzeugen durch Innsbruck gehen und für das Autofasten werben, wenn sich eine Klasse im Rahmen eines Benefizkonzertes für ein Brunnenprojekt in Afrika engagiert, dann ist dies gelebte Verkündigung. Leiturgia schließlich – die Feier – vollzieht sich in echter Weise, wenn auch die zuvor genannten Vollzüge vorhanden sind. Wenn Klasse als Kirche begriffen wird, stellt sich auch die Frage: Wer ist der Seelsorger? Diese Rolle wird vor allem der Religionslehrer oder die Religionslehrerin erfüllen. Wir sind als Katecheten und Katechetinnen durch bischöfliche Missio beauftragt – gesandt in kirchlichem Auftrag, apostelhaft im Kontext Schule zu wirken, was wohl mehr Aufgaben bedeutet als der katechetische Dienst. Das pastorale Axiom im Handlungsfeld Schule weist jedoch vor allem darauf hin, dass alle im Schulleben Beteiligten potenzielle Subjekte kirchlichen Handelns sind und dieses sich nicht auf das Tun des Religionslehrers oder der Religionslehrerin reduzieren lässt. Der Religionsunterricht in seiner konfessionellen Gestalt ist jener Ort, in dem am meisten über die Erfahrungsebenen von Kirche im Lebensumfeld Schule reflektiert werden kann und von dem wieder Impulse in diesen Raum hinausgehen können.
Insofern Schule bzw. Klasse als Kirche begriffen werden, ergeben sich einige Herausforderungen, die nicht zuletzt mit dem großen kirchlichen Kontext verbunden sind. Wie in einem Brennglas verdichten sich dabei die Probleme und Chancen in der Frage der Feier der Eucharistie. Wenn Eucharistie Zentrum jeder kirchlichen Gemeinschaft ist – so die kirchliche Lehre – dann muss sich eucharistische Wirklichkeit auch im Schulalltag vollziehen können. An unserer Schule haben wir Formen gefunden, wo wir bei Schulgottesdiensten Brot brechen und teilen können, ohne Hochgebete und priesterliche Wandlungsworte, zugleich wird gerade in dieser Form erlebbar, dass realsymbolische Gegenwart Christi vorhanden ist und Wandlung geschieht. Dabei kann ein Klassenvorstand, ein Religionslehrer oder auch eine Klassensprecherin „priesterliche“ Aufgaben übernehmen. Solche Feiern, die – und das soll hier ausdrücklich betont werden – eucharistischen Charakter haben, stellen zugleich eine Einladung dar für jene vielen in der multireligiösen Schulwirklichkeit, die einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft angehören oder ohne spezifische Religionszugehörigkeit sind. Schule bzw. Klasse werden also nicht nur als Orte von Kirche zu begreifen sein, sondern auch als Orte von interreligiösem Lernen und Feiern.
Die Kirchenerfahrung in Klasse und Schule soll und darf nicht zur Flucht aus der kirchlichen Wirklichkeit in den Heimatgemeinden und der größeren kirchlichen Wirklichkeit werden. Sie sind der Globe und zugleich nehmen sie Einfluss sowohl auf die Subjekte als auch auf ihre WIR-Dimensionen.8 Das wird zu Widersprüchen führen. „Schulkirche“ mit ihren spezifischen liturgischen Feiern und einer jugendgerechten Sprache entspricht nicht mehr der Art und Weise, wie Jugendliche auf Gemeindeebene Kirche erfahren können. Lebendige Schulgottesdienste, in der Sprache von Jugendlichen gefeiert, brauchen jedoch ihr Pendant in den Gemeinden, so wie auch die Schule Jugendliche bräuchte, die positive Gemeindeerfahrungen in die Schule einbringen. Solange die Kirchenleitungen nicht bereit sind, jene kirchlichen Kardinalsmängel zu verändern, die von Jugendlichen zu Recht nicht verstanden und kritisiert werden – unverständliche Ritualsprache in den Gottesdiensten, die Veweigerung der Ordination für Frauen, Pflichtzölibat und längst überholte sexualfeindliche Äußerungen aus kirchlichem Munde – solange wird der Exodus von Jugendlichen andauern. Konzepte von Seelsorgeräumen setzen nicht ursächlich bei diesen Problemen an, sondern versuchen bestenfalls Folgen dieser Ursachen zu mildern, vereiteln aber vielfach, dass die wirklichen Probleme gelöst werden. Jugendliche, die hören, sie würden dem Zeitgeist9 verfallen, wenn sie Reformvorschläge einbringen, fühlen sich nicht ernst genommen. Eine Kirche, die sich nicht „wandelt“, nimmt den Exodus der Jugendlichen in Kauf. Religionslehrer und Religionslehrerinnen gehören wohl zu jenen, die am meisten mit dieser Situation konfrontiert sind.
Das Paradigma, Schule und Klasse als ekklesiale Realität wahrzunehmen und bewusst entlang der Grundfunktionen zu gestalten, kann der Begriff „Schulpastoral“ nur dann widerspiegeln, wenn er nicht im Sinne des pastoralen Konzeptes einer versorgenden Kirche verstanden wird, sondern im Sinne der Communio-Theologie von Kirche.10 Damit wird bereits definiert, dass es um mehr als um Pädagogik und Katechese geht, wenn über die Präsenz der Kirche an der Schule nachgedacht wird, wobei sich letztlich Religionspädagogik immer als pastorales Tun begreifen muss, dies umso mehr, als Pastoral außerhalb von Schule oft nicht mehr wahrgenommen wird. Es geht um wesentlich mehr, als Schulgottesdienste oder religiöse Veranstaltungen, die im Laufe eines Schuljahres angeboten werden.11 Das System Schule bietet eine Fülle an Möglichkeiten für pastorales Wirken und Erleben, wobei die entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen teils ideale Hilfestellungen bieten, teils aber der neuen Situation anzupassen sind. „Religiöse Übungen“, wie Einkehrtage oder Gottesdienste, können als Angebote während der Unterrichtszeit stattfinden. Nicht passend sind allerdings kirchenamtliche und schulrechtliche Regelungen, die interreligiöses Lernen im Rahmen des Religionsunterrichtes verhindern oder ausschließen, sowie Richtlinien für multireligiöse Feiern, die nicht von einem Miteinander (interreligiös), sondern von einem Nebeneinander ausgehen. Hauptproblem ist dabei eine fundamentalistisch verengte Orientierung am Paradigma der Konfessionalität.12 Religionspädagogische sowie pastorale Studien und Ergebnispapiere sind hier bereits viel weiter als die Praxis an vielen Schulen und die rechtlichen Rahmenbedingungen.
Wenn ich abschließend einen Blick auf die Praxis an meiner eigenen Schule werfe, dann sehe ich klein, aber doch stark wie Gänseblümchen in der Frühlingswiese jene halbe Stunde an jedem Freitag, wo wir vor dem Unterricht im Meditationsraum fortlaufend eine Stelle aus dem Evangelium lesen, darüber reden und auch Raum für freie Gebete ermöglichen. Es sind nur wenige Kollegen und Kolleginnen sowie Schüler und Schülerinnen, die regelmäßig daran teilnehmen, und doch lebt für mich hier ein Stück Schulpastoral. In der Schule findet „Gebetsschule“ statt. Ich habe im Blick die vielen Dienste, die Schüler und Schülerinnen übernehmen – als Umweltverantwortliche, Mediatoren und Mediatorinnen, Klassensprecher und Klassensprecherinnen oder im Rahmen des Caritas-Projektes „Zeit schenken“. Ich habe im Blick Kollegen und Kolleginnen, die ihre Tätigkeit an der Schule nicht primär als Job sehen, sondern als Dienst an den Jugendlichen, und daher mehr als das Vorgeschriebene leisten, wodurch christliche Grundhaltung in Wort und Tun im pädagogischen Alltag sichtbar wird. Jede Schule ist Übungsfeld für soziale Verantwortlichkeit – in christlichen Worten für gelebte Nächstenliebe. Manches davon kann auch einfließen in die großen Schulgottesdienste. Die Worte „ihr seid Kirche“ haben Gestalt und Gestaltkraft in schulischer Wirklichkeit.
Klaus Heidegger
Religionslehrer am Privaten Oberstufenrealgymnasium St. Karl Volders,
Forschungskreis Kommunikative Theologie der Theolog. Fakultät der Universität Innsbruck
1 Das Private Oberstufenrealgymnasium St. Karl Volders ist in der Trägerschaft der Vereinigung von Ordensschulen Österreichs, hat rund 350 Schüler und Schülerinnen und einen musischen sowie einen ökologischen Schwerpunktzweig. www.porg-volders.tsn.at
2 Vgl.: Beck Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.
3 Vgl. dazu u. a.: Bader Günther: „Salz der Schule?“ Schulseelsorge als Pastoral der Begegnung, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum, 1998/1, 22-27.
4 Ein Beispiel für viele zum gegenwärtigen Verständnis der Religionspädagogik ist das Handbuch: Kalloch Christin, Leimgruber Stephan, Schwab Ulrich: Lehrbuch der Religionsdidaktik. für Studium und Praxis in ökumenischer Perspektive, Freiburg i. Br. 2009, 20.
5 Vgl. dazu z. B.: Jäggle Martin: Lebenswerte Schule. Schulpastoral in Österreich, in: Diakonia Mai 2010, 184-189. Jäggle zitiert beispielsweise die Wiener Diözesansynode (1969-1971), in der bereits von der „Gemeinde an der Schule“ gesprochen wurde. Das Schulamt der Diözese Innsbruck will ebenfalls, dass „Schüler im Handlungsfeld Schule Kirche erleben und erfahren können“. www.dioezese-innsbruck.at/index.php … (unter Schulpastoral des Schulamtes)
6 An unserer Schule nehmen beispielsweise Schüler und Schülerinnen am Caritas-Projekt „Zeit schenken“ teil, unterstützen entwicklungspolitische Projekte u. v. a.
7 In diesem Sinne ist es mir als Klassenvorstand wichtig, dass in meiner Klasse ein kooperatives-offenes Lernen (COOL-Projekt) realisiert werden konnte, das von einem LehrerInnenteam gemeinsam verantwortet wird.
8 Im heuristischen Verständnis der Themenzentrierten Aktion spielt sich Erfahrung stets in einer Interaktion und Interdependenz der vier Dimensionen Ich (persönliche Erfahrung), Wir/Du (als Gruppenerfahrung), Es (Traditionen, …) und Globe (größere gesellschaftliche Zusammenhänge) ab.
9 Auf die Frage nach Reformvorschlägen wie Zölibat antwortete der neu ernannte Generalvikar der Erzdiözese Wien: „Zum Charme der Kirche gehört eben auch ein Widerspruch zum Zeitgeist.“ In: DER STANDARD, 24.12.2010.
10 Vgl. dazu u. a.: Diakonia – Internationale Zeitschrift für die Praxis der Kirche, Heft 3, Mai 2010. (Schwerpunktnummer zur Schulpastoral) Die Bezeichnung „Schulseelsorge“ wird ebenfalls gerne verwendet, drückt aber m. E. zuwenig jene pastorale Breite aus, die sich im Handlungsfeld Schule ereignen kann. Als richtungsweisend gilt das viel zitierte Papier der Deutschen Bischofskonferenz aus dem Jahr 1996 „Schulpastoral – der Dienst der Kirche an den Menschen im Handlungsfeld Schule“.
11 Darauf konzentrierte sich der traditionelle Ansatz, der teilweise immer noch an so mancher Schule praktiziert wird. Schulgottesdienste, die jedoch nicht aus der Erfahrungswirklichkeit von religiösem Erleben in Schule und Klasse gespeist sind, werden von den Schülern und Schülerinnen als Fremdkörper abgelehnt.
12 Vgl. dazu ausführlich: Heidegger Klaus: Lebendiges interreligiöses und ökumenisches Lernen im Religionsunterricht, Master-Thesis und Lizenziatsarbeit, unveröff. Manuskript, Innsbruck 2009.