Die Seelenwaage – Allerheiligenwochenende 2016

 

seelenwaageFarbenprächtiger Herbst.  In der Natur draußen der stahlblaue Himmel, goldene Lärchenbäume, blutrot-gelbbraune Buchen, Ahorn- und Kastanienbäume. Berge zum Greifen nahe. Der tiefe Sonnenstand betont die Konturen der Gebirgslandschaft. Unverdientes Glück hier zu leben, ohne Angst vor Erdbeben, vor Bomben oder Verhaftung, vor einem Verlust des Arbeitsplatzes oder einem Mangel an Nahrung.

Im Inneren der alten Kirchen Südtirols setzt sich die Farbenpracht fort. Darunter sind immer wieder auch Darstellungen vom Jüngsten Gericht und Bilder von Himmel, Fegefeuer und auch Hölle. Eschatologische Volkskunst aus der Zeit der Gotik. Ein Motiv davon ist mir diesmal öfters aufgefallen. Der Erzengel Michael mit einer Seelenwaage. In den beiden letzten Tagen habe ich auf Fresken aus dem frühen 14. Jahrhundert diese Darstellung mehrmals entdeckt. In Bozen wie in einer Totenkapelle in Terlan.

In solchen Bildern kann Angst vor der Hölle gemacht werden. Über Jahrhunderte ist dies auch geschehen. Gott als strafende Instanz, die mit Hilfe des Seelenwägers über die Zahl der guten und schlechten Taten am Ende der Tage das Gericht halten wird. Für mich ist dieses Bild aber eine tröstliche Ermahnung. Auf die Waage kommt die Seele des Menschen, nicht sein Besitz, nicht seine gesellschaftliche Stellung, seine Titel und Auszeichnungen. So führt mich die Seelenwaage des Erzengels zum Wesen des Allerheiligen- und Allerseelenfestes: Der Frage, was wirklich im Leben wiegt. Hier und jetzt schon.

Klaus Heidegger