Mein letzter Grenzübergang zwischen Österreich und Ungarn war illegal. Es war 1990. Ein Jahr, nachdem der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West durchschnitten worden war. Die Grenzöffnung zwischen Ungarn und dem Westen Europas, bei der auch – wie es der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl ausgedrückt hatte – ein erster Stein aus der später fallenden Berliner Mauer genommen worden war, war auch die Folge des zuvor massenweisen illegalen Grenzübertritts von flüchtenden DDR-Bürgern und Bürgerinnen.
1989 arbeitete ich als Bundessekretär für die Katholischen Jugendorganisationen in Wien. Die rot-schwarze Bundesregierung hatte gerade den Assistenzeinsatz beschlossen. Österreichische Soldaten wurden zum Grenzeinsatz ins Burgenland abkommandiert. Im damaligen Ostblock wurde die Grenze abgebaut; Österreich begann neue Grenzziehungen. Gemeinsam mit Aktivisten und Aktivistinnen der „Arbeitsgemeinschaft für Wehrdienstverweigerung und Zivildienst“ fuhr ich ins Burgenland, dorthin, wo auch Wehrpflichtige abkommandiert wurden. Abends machten wir uns zu Fuß über die grüne Grenze nach Ungarn und kurz darauf auch wieder zurück. Wir legten es darauf an, von den assistierenden Soldaten verhaftet zu werden, um so auf den bestehenden Unrechtszustand aufmerksam zu machen. Zwischen Ungarn und Österreich soll nicht wieder eine militärische Grenzziehung geschehen. Das Europa der Grenzen und Grenzziehungen soll überwunden werden. Unser Traum war ein Europa ohne Grenzen. Mit den Rekruten, die meist in unserem Alter waren, wollten wir ins Gespräch kommen. Wir wollten zum Nachdenken anregen. Wir haben ein Zeichen gesetzt. Im Grenzgebiet bekam ich von einem Beamten einen Stempel in meinen Pass gedrückt, der mir offiziell bestätigte, dass ich nicht wieder nach Ungarn einreisen dürfte. Der Pass ist ohnehin längst abgelaufen.
26 Jahre später fahre ich im Zug nach Ungarn. Der Zug, der vom glänzend neuen Wiener Hauptbahnhof abfährt, dürfte auch so alt sein. 26 Jahre später sind wieder Soldaten an den Grenzen. Die Assistenzleistungen des heimischen Militärs sind zur Normalität geworden. Heute gibt es keine Gruppen mehr, die dagegen protestieren. Man hat sich daran gewöhnt. Die Aufgabe des Militärs für eine Sicherung der Grenzen auch außerhalb von Kriegssituationen soll mit der neuen Doskozil-Doktrin auch in die österreichische Verfassungswirklichkeit aufgenommen werden. Künftig soll, so der amtierende Verteidigungsminister, das Militär gar nicht mehr vom Gesetzgeber und der Regierung für eine Grenzsicherung angefragt werden müssen, sondern soll diese Aufgabe von sich aus erledigen können. 26 Jahre später – am 10. 12.2016, dem Tag der Menschenrechte – sind neue Grenzen in den Köpfen und Herzen. In einer der dumm-dämlichen Gratiszeitungen Wiens wird Sebastian Kurz, „unser Basti“, über alle Maßen gelobt. Die Schließung der Balkanroute wird als sein großartiges Werk tituliert. Deswegen werde er auch in den internationalen Medien als „the new face of Europe“ und als einer der wichtigsten Politiker gewertet. Der Chefredakteur der Gratiszeitung „Österreich“ wünscht sich ihn bereits als neuen Bundeskanzler herbei.
26 Jahre später liegt in Österreich die Law-and-Border-Partei laut Umfragewerten an erster Stelle. 35 Prozent für die FPÖ, 26 für die SPÖ, 18 für die ÖVP und 13 für die Grünen. Die Berichterstattung in den Gratiszeitungen befördert mit ihrer flüchtlingsfeindlichen Berichterstattung solches Denken.
Damals, 1990, träumten viele von uns in den Friedensorganisationen von einem Land ohne Armee. „Österreich ohne Heer“ wurde initiiert. Heute geschehen ungehindert von zivilen Organisationen und mit dem Rückenwind rechtspopulistischer Kräfte Aufrüstungen. Die Einsatzmöglichkeiten für das heimische Militär sollen rechtlich erweitert werden und das Militärbudget wird kräftig erhöht.
Ich fahre über die Grenze nach Budapest. Für uns Touristen im Zug gibt es keine Kontrollen mehr. Binnengrenze des Schengenraumes ohne Personenkontrolle. 2007 trat Ungarn dem Schengenraum bei. Wieder denke ich zurück, wie kompliziert und nervig es zu meinen Studienzeiten war, diese Grenze zu überfahren.
Heute, Dezember 2016. Die Fahrt geht von West nach Ost. Flüchtlinge von Ost nach West hätten wohl keine Chance. Sie werden auch bereits an der ungarisch-serbischen Grenze abgefangen. Dort stehen nun – auch unterstützt von österreichischen Kollegen – ungarische Soldaten und bewachen den NATO-Stacheldrahtzaun. Ungarn gehört zum Schengenraum. Die Schengengrenze trennt Europa und ist die Hauptbarriere für Flüchtlinge. Ungarn und Österreich sichern die Schengengrenze gemeinsam. Heute hätten Friedensaktivisten wohl nicht die Kraft und den Mut, einen illegalen Grenzübertritt zu wagen. Ungarn droht den Flüchtlingen mit neuen Gesetzen hohe Haftstrafen an. Das Gefängnis wäre die Konsequenz.
Christen und Christinnen feiern am dritten Adventsonntag „Gaudete“ – heißt übersetzt: Freut euch! Für Flüchtlinge an der ungarisch-serbischen Grenze gibt es kein Gaudete. Im Evangelium zu diesem Sonntag hören wir von Johannes dem Täufer, der auch im Gefängnis war. Dort hörte er die frohe Botschaft von jenem, der es bewirkt, dass Blinde sehen, Lahme Gehen und Taube hören können und die Armen neuen Mut bekommen. Die Diskrepanz zwischen den Worten des Evangeliums einerseits und zur Situation, in der Flüchtlinge heute in riesigen Lagern ausharren müssen, andererseits ist offenkundig. Das Evangelium deckt somit auf, was ist, und fordert uns aufzustehen für das, was sein könnte.
Klaus Heidegger, 10.12.2016