Licht für die Ausgegrenzten
Das Evangelium zum Vierten Fastensonntag (Joh 9,1-14) möchte ich mit Blick auf unsere Weltsituation deuten. Es ist eine „gute Botschaft“ inmitten einer dystopischen Welt. In der Geschichte aus dem Johannesevangelium geht es um die wundersame Heilung eines Blinden. Sie beginnt damit, dass Jesus einen Blinden sieht. Es ist kein zufälliges Sehen. Jesus stolpert nicht auf den Blinden zu, sondern geht ihm bewusst entgegen. Im Markusevangelium wird der Blinde von anderen Menschen zu Jesus gebracht. Es ist ein bewusster Blick von Jesus, ein gezieltes Hinsehen. Der Evangelist Johannes legt in dieser Perikope Jesus die Worte in den Mund: „Ich bin das Licht der Welt“. Dieses Licht richtet sich auf jene, die im „Dunkeln“ sind. Die Jesusgeschichten sind wie eine Antithese zur Aussage in der Dreigroschenoper: „Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht, und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Jesus macht also das, was Bert Brecht wollte. Verhältnisse werden zugunsten der Armen umgedreht. Systemveränderung beginnt von unten her. Heilung von Blindheit durch die „österlichen Augen“, die uns der Auferstandene schenkt. Auch die scheinbar Sehenden werden von ihrer Blindheit, die Not nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen, geheilt. Die „im Dunkeln“ rücken ins Licht. Licht dringt in die Tiefen des Meeres und öffnet den Blick für Menschen, die in den dunklen Tiefen ertrunken sind. Allein in diesem Jahr sind es bereits 500, die im Mittelmeer auf der Flucht gestorben sind. 5000 waren es im vergangenen Jahr. Der geheilte Blick richtet sich heute auf Menschen, die verhungern, weil wir durch unseren Konsum, unsere Terms of Trade und unsere klimaschädliche Lebensweise ihre Lebensgrundlagen zerstören. Mit jesuanischem Blick ist es, als würden die Lichter in den Schaufenstern und Einkaufszentren erlöschen, um Lichtenergie für eine andere Wirklichkeit zu haben: 20 Millionen Menschen hungern in den Ländern Afrikas und in den Kriegsgebieten des Mittleren Ostens. Afrika ist im Lichte des Evangeliums kein dunkler Kontinent mehr. Und weiters: Die Festungsmauern können nicht verhindern, dass das jesuanische Licht uns hinter die NATO-Stacheldrahtzäune und in die Anhaltelager in Griechenland, Serbien oder Kroatien schauen lässt. Mit dem Blick Jesu sehen wir die Millionen Kriegsflüchtlinge in der Türkei, in Jordanien und im Libanon oder riesige Zeltstädte am Rande der afrikanischen Kriegsgebiete. Wir wischen uns den Staub einer menschenfeindlichen Berichterstattung in den Boulevardblättern aus den Augen und können in die Nöte unserer Zeit blicken.
Die mehrfach Ausgegrenzten in den Blick nehmen
Die Not eines einzelnen Menschen wird in den Blick genommen. Der Blinde im Evangelium ist ein Mensch in einer prekären sozialen Lage. Behinderte galten im herrschenden Reinheitssystem der damaligen palästinensischen Gesellschaft als „unrein“. Zu ihrer körperlichen Not kam noch die kulturell-religiöse Ausgrenzung, die auch im Evangelium angesprochen wird. Man glaubte, dass sie selbst durch eine Sünde für ihr Schicksal verantwortlich seien. Irgendeine Sünde müsse es ja geben, dass sie so von Gott gestraft worden seien. Jesus weist zunächst diese Sünde-Schuld-Bestrafung-Konstruktion zurück. „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt“, sagt Jesus. Behinderung ist keine Folge irgendeiner Sünde. Die Theodizee-Frage, woher das Leid komme und ob Gott dafür verantwortlich gemacht werden könne, wird nicht mit der Vorstellung eines strafenden Gottes beantwortet. Dies würde so gar nicht zum liebend-barmherzigen Abba-Gott von Jesus passen. Das herrschende Reinheitssystem als ideologischer Überbau einer sozial-ökonomischen Deklassierung wird infrage gestellt. Damit freilich provoziert Jesus die herrschende religiöse wie politische Elite seiner Zeit, die Profiteure ebendieser Ordnung waren. Bewusst nähert sich Jesus all jenen Menschen, die damals ausgegrenzt waren. Den Blinden, den Taubstummen, den Lahmen, den Kranken. Sie waren auf Bettelei angewiesen, die nur außerhalb der Stadtmauern erlaubt war. Bettler wurden schon damals von der Mitte in den Rand gedrängt, so wie die Bettelverbote im Heute. Jesus rückt sie jedoch von der Peripherie ins Zentrum. So werden sie heil. So geschieht Heilung.
Die Ausgegrenzten berühren
Im Evangelium heißt es, dass Jesus auf die Erde spuckte, mit dem Speichel einen Teig machte, diesen auf die Augen des Blinden strich. Hier geschieht eine intensive körperliche Berührung. Physisches Tun, das heilend ist. Heute denke ich an jene Menschen, die bereit zu solchen Berührungen mit den Ausgegrenzten sind. Es sind Menschen, die Flüchtlinge bei sich aufnehmen, Tür an Tür mit ihnen wohnen und sie am gemeinsamen Tisch essen lassen. Ich denke an die Menschen, die Kranke pflegen, den Obdachlosen eine Herberge geben, Behinderten Respekt erweisen. Dann geschehen die Wunder, die durchaus physischer Natur sind, weil sie materielle Konsequenzen haben. Damit solche Wunder geschehen, muss „in die Hände gespuckt“ werden. So wie es heute Menschenrechtsorganisationen tun, die Flüchtlinge aus dem Meer fischen und sich liebevoll um sie kümmern. Nicht ihr Tun ist „wahnsinnig“ (© Sebastian Kurz), sondern der Wahnsinn liegt in der Logik einer militärischen Abschottungspolitik, die letztlich eine überdimensionierte kulturell-politische Reinheitspolitik ist. Wir kennen auch den ideologischen Überbau, der jenem zur Zeit Jesu durchaus ähnlich ist. Diejenigen, die in Not sind, werden nochmals für ihre eigene Not verantwortlich gemacht. Sie seien ja selbst schuld, wenn sie sich den Schleppern anvertrauen. Sie würden ja selbst das Risiko einer Flucht auf sich nehmen. Es seien ja gar keine Kriegsflüchtlinge. Sie sind ja Illegale, die herrschendes Gesetz verletzen. Und Pilatus wäscht einmal mehr seine Hände in Unschuld.
Dr. Klaus Heidegger, Fest Mariä Verkündigung, 25.3.2017
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