Im Oktober 2007 erfolgte das, was sich viele Menschen in Österreich lange ersehnten: Die Seligsprechung des Wehrdienstverweigerers Franz Jägerstätter. Damit wird dieser einfache Bauer katholisch-offiziell zum Vorbild des Glaubens und der Tat für alle Gläubigen. In der vorliegenden Darstellung möchte ich vor allem der Frage nachgehen, welche Bedeutsamkeit Jägerstätter für die bleibende Frage hat, ob sich Militär und Militärdienst, Krieg und Kriegsvorbereitungen mit christlichen oder kirchlichen Vorgaben vereinbaren lassen.
1) Wer war Franz Jägerstätter?[1]
Seine Heimat ist das Innviertel. Sein Heimatort St. Radegund. Dort ist er 1907 geboren. Der Widerspruch könnte kaum größer sein. Auch Adolf Hitler ist gebürtiger Innviertler. Braunau und St. Radegund sind nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Hitler geht als größter Verbrecher in die Geschichte der Menschheit ein, Jägerstätter steht für das ganz Andere: Den religiös motivierten Widerstand gegen das Unmenschliche, der katholisch geprägten Verweigerung des Kriegsdienstes. Jägerstätter war ein tiefreligiöser Mensch. Seine Frau, Franziska Jägerstätter, hatte maßgeblichen Anteil daran. Zusammen haben sie drei Kinder. Die Jägerstätters sind Bauern. Franz ist auch Mesner. Es kommt die Zeit der Schreckensherrschaft. Jägerstätter verweigert von Anfang an jede Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten. 1940 wird er zum Militärdienst einberufen, auf Betreiben der Heimatgemeinde aber zweimal als unabkömmlich gestellt. Einer weiteren Einberufung will er nicht mehr Folge leisten. Viele, darunter auch Priester, versuchen ihn umzustimmen. Wegen Wehrkraftzersetzung wird Franz Jägerstätter zum Tod verurteilt und am 9. August 1943 in Brandenburg enthauptet.
2) Rehabilitierung Jägerstätters staatlich und kirchlich
Jägerstätter war ein Opfer der NS-Blutjustiz. Über 46.000 Todesurteile sind von der NS-Justiz ausgesprochen worden. Tausende Opfer und Verwandte der NS-Militärgerichtsbarkeit warteten jahrzehntelang auf die offizielle Rehabilitierung. Das Landgericht Berlin hatte erst Anfang Mai 1997 das Todesurteil der NS-Terrorjustiz vom 6. Juli 1943 gegen Franz Jägerstätter aufgehoben. Die Berliner Richter gaben dem beschleunigten Antragsverfahren der Witwe Franziska Jägerstätter und ihrer drei Kinder statt. Jägerstätter ist damit einer der ersten aus der großen Gruppe der „Wehrkraftzersetzer“, der eine Rehabilitierung erfuhr.
Wie sieht die kirchliche „Rehabilitierung“ aus, sollte eine solche notwendig sein? Der Sachverhalt ist widersprüchlich: Einerseits hat die offizielle Kirche Jägerstätter lange im Sturm und Regen militärischer Werthaltungen und obrigkeitsstaatlichen Denkens stehen gelassen. Jägerstätter selbst wurde damals einerseits vom Heimatbischof und von einem großen Teil des Klerus wegen seiner Verweigerung kritisiert. Ereignisse, wie die unselige Erklärung des österreichischen Episkopats, mussten Jägerstätter verunsichern. Andererseits gab es aber auch einige wenige aus dem Klerus, die Jägerstätter ermutigten. Die kirchliche Entdeckung Jägerstätters war zuerst vor allem eine, die von außerhalb Österreichs kam. Der US-amerikanische Soziologe Gene Sharp schrieb die erste grundlegende Biographie über Jägerstätter.[2] Im Jahre 1965 verwies Erzbischof Thomas D. Roberts SJ bei der Arbeit an der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils in einer schriftlichen Eingabe auf die einsame Gewissensentscheidung Franz Jägerstätters.[3] Das Vorbild Jägerstätters war somit ein Beitrag zu einer neuen kirchenamtlichen Sicht von Wehr- und Zivildienst, die die Gewissensfreiheit und in gewisser Hinsicht damit auch eine Gleichrangigkeit beider Dienste betonte. Eine prinzipielle Infragestellung militärischer Dienste, wie dies in der jüdisch-christlichen Tradition als Grundhaltung anzutreffen ist, war damit jedoch noch nicht gegeben.
3) „Ein heiliger Soldat“?
1995 wurde von Vertretern des österreichischen Militärs überlegt, eine Kaserne in Oberösterreich nach Franz Jägerstätter zu benennen. In diesem Kontext wird öfters betont, dass der Kriegsdienstverweigerer aus dem kleinen Dorf St. Radegund im Innviertel kein Pazifist gewesen sei. Es wird behauptet, dass er zwar den Dienst in der Deutschen Wehrmacht unter Hitler abgelehnt habe, jedoch mit einem Fahneneid auf das österreichische Bundesheer heute keine Schwierigkeiten hätte. Er sei daher kein Pazifist gewesen. Manche wollen ihn gar als „heiligen Soldaten“ sehen. „Jägerstätter ist für mich einer, der kein Problem hatte, eine Uniform anzuziehen und einem Land zu dienen“, schreibt beispielsweise ein Salzburger Soldat[4] und wiederholt gleich das Argument, dass Jägerstätter nur den Angriffskrieg von Hilterdeutschland abgelehnt hätte. Ein Bild, mit dem Jägerstätter gerne gezeigt wird, unterstützt sehr nachhaltig diese Ansicht. Es zeigt Jägerstätter in jungen Jahren in Wehrmachtsuniform.
In größter Deutlichkeit positionierte sich der Wiener Neustädter Militärseelsorger Siegfried Locher anlässlich des Bekanntwerdens der Seligsprechung im Frühjahr 2007. Er formulierte in einem nationalistischen Wochenblatt der FPÖ, dass „Franz Jägerstätter ganz sicher kein Märtyrer der katholischen Kirche war, sondern ein bedauernswertes Opfer seines irrenden Gewissens“[5]. Bis dato ist mir nicht bekannt, dass sich die offiziellen Vertreter der Militärseelsorger von diesem Ausspruch distanziert hätten. Warum wurde der Militärseelsorger von seinem Bischof nicht zurechtgewiesen oder vom Militär, dessen Beamter er zugleich ist, von seinem Dienst suspendiert, und warum kann er weiterhin sein gut bezahltes Amt ausüben?[6] Seine Positionen waren seit langem bekannt, dennoch erhielt er als Militärsuperior den dritthöchsten Dienstgrad der Heeresgeistlichen. Deutlich wird dies beispielsweise darin, dass der ehemals ranghöchste Soldat Österreichs, Ex-Generaltruppeninspektor Karl Majcen, eine Lanze für Locher gebrochen hat. [7] Die Schlüsselstelle in der Stellungnahme des pensionierten GTI lautet: „Jägerstätter war im heutigen Sinn kein Wehrdienstverweigerer, er war jemand, der aus seiner sehr persönlichen Sicht die Teilnahme an einem Krieg für ein Unrechtsregime verweigert hat.“ Dann folgt das Argument, dass Jägerstätter ja anfangs bereit gewesen sei, „sein Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen“. Es wäre, so Majcen, jedenfalls falsch, aus Jägerstätter einen „Säulenheiligen der Wehrdienstverweigerer“ zu machen. Majcen unterstellt, ähnlich wie Locher, dass „Kreise, denen sonst weder der Glaube noch das auf Glaubensüberzeugungen basierende Gewissen ein Anliegen sind, die öffentliche Meinung in Richtung Pflicht zur Wehrdienstverweigerung manipulieren“.
In diesem Sinne ist beispielsweise eine umfangreiche Broschüre von Johann Berger, der als Theologe und Ethiker im Dienste der Landesverteidigungsakademie steht.
Ist die Gestalt von Franz Jägerstätter also keine Anfrage an den militärischen Dienst, keine Infragestellung militärischer Gewalt und keine Provokation für militärische Konfliktlösung? Ist seine Verweigerung wirklich nur ein Nein zu Hitler und der Deutschen Wehrmacht gewesen oder nicht vielmehr auch ein Nein zu jeglicher kriegerischer Gewalt? Aus kirchen(politischer) Sicht gesprochen: Stellt Franz Jägerstätter nicht auch eine Anfrage an die Institution des Militärordinariats dar, das unter den Militärbischöfen Kostelecky, Werner und Freistätter stets auch als offene Legitimation für das Militärische diente?
In etlichen Darstellungen wird zumeist der Eindruck erweckt, als wäre die Kriegsdienstverweigerung Jägerstätters rein aus seiner ablehnenden Haltung zum Nationalsozialismus ableitbar. „Man weiß“, schreiben beispielsweise Alfons Riedl und Josef Schwabeneder in dem von ihnen herausgegebenen und aus Anlass des 90. Geburtstags erschienen Sammelbandes über Jägerstätter, „dass er – bei aller Problematisierung kriegerischer Gewalt unter den Menschen – den Dienst der militärischen Verteidigung nicht grundsätzlich und generell ausgeschlossen hat.“[8] Jägerstätters Bereitschaft, sich der Grundausbildung[9] zu unterziehen, sowie später seine Bitte, zum Sanitätsdienst zugewiesen zu werden, um den Konsequenzen der Verweigerung entgehen zu können, dienen dieser Interpretation als wichtigste Argumente. Jägerstätter hätte, so meint Alois Wolkinger, die nötige Differenzierung vorgenommen zwischen „einem ethisch verpflichtenden Wehrdienst zur Abwendung der höchsten Not der Allgemeinheit und einem ethisch verwerflichen Kriegsdienst, den eine zwar legal an die Macht gekommene Regierung fordert, der aber unternommen wird von einer religions- und kirchenfeindlichen Ideologie“[10]. Wolfgang Palaver wiederum weist darauf hin, dass Jägerstätter sich auf die traditionelle Lehre vom „gerechten Krieg“ berufen habe.[11] Demnach lehnte er den konkreten Dienst in der Wehrmacht ab, weil sie an einem „Eroberungskrieg“ beteiligt gewesen sei, der den katholischen Standards für einen gerechten Krieg nicht entsprochen hätte. Ähnlich heißt es auch bei Josef Schwabeneder, dass für „Jägerstätter nur ein ‘gerechter Krieg’ in der Tradition katholischen Verständnisses“ legitim gewesen sei.[12]
Eine solche Klassifikation Jägerstätters als Mann, der nicht den Kriegsdienst an sich abgelehnt hätte, sondern den Dienst in einem ungerechten Krieg, ist Balsam für die Militärs, die jeweils glauben, ihr Dienst sei immer eine gerechte Sache. Damit wird Jägerstätter als Vorbild für einen Soldaten, der den Dienst in einem ungerechten Krieg verweigert, nicht aber für einen Wehrdienstverweigerer, der aus prinzipieller Überzeugung Krieg und militärische Gewalt als Mittel der Konfliktbewältigung ablehnt. Von einer antimilitärischen Provokation bleibt zumindest implizit eine Befürwortung von angeblich gerechten Militärdiensten übrig.
4) Kritische Positionierung zu Militär und Krieg per se
Die konsequente und mutige Verweigerung des Bauers und Mesners aus St. Radegund wäre um nichts geringer, hätte er diese Entscheidung nur aufgrund seiner Ablehnung des Hitlerregimes getroffen. Sein Vorbild und seine Einstellungen jedoch – so möchte ich hier argumentieren – tendieren in eine Richtung, die auch für die heutigen Fragen von Kriegsdienstverweigerung relevant sind. Franz Jägerstätter ist nicht nur ein bedeutsames Vorbild des Widerstands gegen ein totalitäres und menschenfeindliches Regime, sondern auch gegen ein Denken und eine Haltung, die Konflikte mit militärischen Instrumenten zu lösen versuchen. Daraus folgt: Der gegenwärtige Schulterschluss von katholischer Kirchenleitung und militärischem Establishment ist aus den Gedankengängen von Jägerstätter nicht akzeptabel.
5) Pazifistische Orientierung
Kann Jägerstätter als Pazifist bezeichnet werden? Ich beginne mit einer notwendigen Definition. Unter Pazifismus verstehe ich eine Lebensorientierung, in der sich eine Person innerlich verpflichtet fühlt und sich dazu entscheidet, militärische Gewalt als Mittel der Konfliktlösung abzulehnen. Ein Pazifist bzw. eine Pazifistin verweigert somit den Kriegsdienst und die Beteiligung an Kriegen in jedweder Form. Weder Krieg noch militärische Verteidigung oder militärische Intervention werden als richtiger bzw. sinnvoller Weg gesehen und prinzipiell und kompromisslos abgelehnt.
Aktuelle Ereignisse signalisieren, dass auf nationaler und internationaler Ebene pazifistische Positionen an den Rand und militaristische Optionen in die Mitte gerückt werden: Die Hinwendung zu militärischem Interventionismus und die Umorientierung der nationalen Streitkräfte und Militärdoktrinen transnationaler Pakte auf schnelles Eingreifen sind Indikatoren, dass militaristische Gesinnung die Politik der Herrschenden prägt. Der Rechtsruck in vielen europäischen Ländern – auch in Österreich – ist verbunden mit militärischer Aufrsütung. Kann also die Beschäftigung mit Franz Jägerstätter eine Hilfe sein, um diesem Trend einer „Gerechte Kriege“-Stimmung entgegenzusteuern?
6) Franz Jägerstätter in pazifistischer Gesellschaft
„Nicht zufällig findet sich auf einem Kalender mit wichtigen Tagen der US-Friedensbewegung Pax Christi Franz Jägerstätter in einer Reihe mit Martin L. King, Oscar Romero, Franz von Assisi oder Gandhi.“ Dies meint Erna Putz, die ihr Lebenswerk in die historisch-wissenschaftliche sowie spirituelle Aufarbeitung des Lebens von Franz Jägerstätter gestellt hat. Es ist wahrlich kein Zufall, dass Franz Jägerstätter so mühelos mit den großen Pazifisten in einem Atemzug gedacht und genannt wird. Viele Parallelen zwischen seinem Schicksal und seinem Denken und jenem anderer Pazifisten und Pazifistinnen lassen sich nennen.
7) Zum Pazifisten geworden
Die biografischen Daten Franz Jägerstätters zeigen, dass er – wie eine Vielzahl großer Pazifisten – nicht schon als Pazifist auf die Welt gekommen ist. Erna Putz nennt ihn einen „geistig Suchenden“[13]. Manfred Scheuer schreibt von einem „Lernprozess“, einem Leben, das wie bei vielen Heiligen, keine reine Erfolgsgeschichte oder ein Heldenepos oder keine gerade Fahrt auf einer Autobahn sei.[14] Die Jahre vor seiner Hinrichtung waren gekennzeichnet von einer deutlichen Entwicklung. Sie reichte von seinem widerwilligen Soldateneid (Fahneneid auf den Führer) und sechsmonatigem Dienst bei der Deutschen Wehrmacht 1940/41 bis zu seinem kompromisslosen Nein zum Militärdienst. Die Konfrontation mit dem Militär und den Militärgerichten hatte Jägerstätter gezeigt, dass die deutsche Hitlerwehrmacht nicht nur einen ungerechten Krieg führte, sondern dass er aufgrund seiner Orientierung am Evangelium dem kriegerischen Dienst überhaupt ablehnend gegenüberstand.
Der NS-Staat hat letztlich die Tat Jägerstätters als militärische Verweigerung verstanden. Er wurde vom Reichskriegsgericht für „wehrunwürdig“ und wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt. Die offizielle Anklage galt also nicht Jägerstätters Ablehnung des Hitler-Regimes, sondern seiner militärischen Verweigerung.
Im Todesurteil wird die geistige Entwicklung Jägerstätters angesprochen. Es heißt dort: „Er sei erst im Laufe des letzten Jahres zu der Überzeugung gelangt, dass er als gläubiger Katholik keinen Wehrdienst leisten dürfe.“[15] Und weiters: „Wenn er den früheren Einberufungsbefehlen Folge geleistet habe, so habe er es getan, weil er es damals für Sünde angesehen habe, den Befehlen des Staates nicht zu gehorchen; jetzt habe Gott ihm den Gedanken gegeben, dass es keine Sünde sei, den Dienst mit der Waffe zu verweigern; es gebe Dinge, wo man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen.“
Auf der ganzen Welt machen Menschen, die sich den Fragen von Militär und Krieg plötzlich gegenübergestellt sehen, ähnliche Erfahrungen. Da sind in Österreich beispielsweise Präsenzdiener, die erst im Laufe ihrer Dienstzeit erkennen, dass die Anwendung militärischer Waffengewalt zutiefst ihrer Überzeugung widerspricht. M.a.W.: Die Gründe und Motive einer Kriegsdienstverweigerung kommen vielfach erst nach einer Einberufung – das ist zugleich dann, wenn es zumeist keine legalen Verweigerungsmöglichkeiten mehr gibt.
Auf die geistige Entwicklung Jägerstätters, die von einer Ablehnung des Hitlerregimes über eine kritische Haltung gegenüber der Wehrmacht bis hin zu pazifistisch-christlichen Grundsätzen reicht, wird in der Literatur zuwenig hingewiesen. Die Gefängnisbriefe Jägerstätters dokumentieren jedoch, wie er zunehmend klarer seine Verweigerung als Verweigerung eines Dienstes im militärischen Apparat verstand. Jägerstätter bemühte sich freilich, seine Argumente je nach Gesprächskontext anzupassen. So konnte er gegenüber den Kichenoberen durch und durch mit den klassischen Richtlinien des Gerechten Krieges argumentieren, während er zugleich – vor allem in den Briefen an seine Frau – Argumente verwendete, die als typisch pazifistisch verstanden werden könnten.
8) Ein religiöser Pazifist
Franz Jägerstätter steht in der Tradition des religiösen Pazifismus, wie er die frühe Kirche vor der Konstantinischen Wende[16] prägte und im Laufe der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums viele kirchliche Gruppen und Gemeinschaften bestimmte, beispielsweise die Hutterer, Mennoniten oder Quäker. Vergleichbar ist Jägerstätter mit katholischen Pazifisten wie Dorothee Day oder Thomas Merton.
Die Gefängnisbriefe und Aufzeichnungen und sein Leben spiegeln seine tiefreligiöse Bindung und Orientierung wider, auf der seine Wehrdienstverweigerung gründet. Nicht von ungefähr trat Jägerstätter einer Ordensgemeinschaft bei, dem Dritten Orden des Franz von Assisi. Für Mitglieder dieser Gemeinschaft galt in der Geschichte ein Verbot des Waffentragens und der Eidesleistung und der Auftrag zu sozialpolitischem Verhalten.
Für Jägerstätter war vor allem die Heilige Schrift – insbesondere das Neue Testament – die geistige Grundlage für seinen persönlichen Widerstand gegen das Nazi-Regime und die Deutsche Wehrmacht. Von verschiedener Seite wurde er daher als „Bibelforscher“[17] diffamiert. Hildegard Goss-Mayr nennt Jägerstätter ein „Vorbild radikaler evangelischer Nachfolge“[18]. In der Tat: Weit mehr als an katholischer Morallehre orientierte sich Jägerstätter am Evangelium. Immer wieder scheint in seinem Leben die zentrale Bedeutung der Bibel auf – relativ untypisch für die volkskatholische Mentalität seiner Zeit. Die Bergpredigt dürfte der Lieblingstext von Jägerstätter gewesen sein. Auch in diesem Punkt ist Jägerstätter in prominenter Gesellschaft von M. L. King, Leo Tolstoj oder Mahatma Gandhi, die die Kapitel 5 bis 7 des Matthäusevangeliums als bedeutungsvollste Texte der Hl. Schrift erachteten.
Zugleich war Jägerstätters biblische Orientierung eingebettet in eine gereifte katholische Identität. Er verwendete Bibelzitate nicht in fundamentalistischer Manier, sondern verstand sie als Ausdruck einer religiösen Grundhaltung. Damit unterschied er sich deutlich von der Art und Weise, wie die Zeugen Jehovas die Bibel interpretierten.
9) Priorität individueller Gewissensentscheidung
Ein religiöser Mensch weiß sich in erster Linie an Gott gebunden. Angesichts solcher Priorität sind staatliche Verpflichtungen sekundär. Immer wieder dachte der oberösterreichische Bauer über den Charakter von Verpflichtungen nach und kam zu einer sehr klaren Sicht: Er lehnte das vorherrschende Denken ab, dass ein Soldat nur den Befehlen zu gehorchen hätte und die Verantwortung den Obrigkeiten überlassen könne. Oberstes Prinzip war für Jägerstätter der Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen. Für Jägerstätter bedeutete dies freilich in keiner Weise ein Handeln nach individueller Beliebigkeit. Im Gegenteil: Auch das Gewissen hat sich zu orientieren. „Man soll nicht immer fragen oder sich fragen, bin ich über dies verantwortlich oder nicht, sondern ist es Gott auch wohlgefällig, was ich tue.“ Laut dieser Aussage von Jägerstätter ist die oberste Richtschnur der im Evangelium grundgelegte Wille Gottes.
10) Einheit von Wort und Tat, von Verantwortung und Gesinnung
Pazifisten wie Franz Jägerstätter oder Mahatma Gandhi flüchten nicht in die unseligen Dichotomien von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik; sie lehnen jene gern verwendete Diktion der Herrschenden ab, man müsse aus Verantwortung immer wieder auch gegen seine eigene Überzeugungen handeln. Franz Jägerstätter wies die entschiedenen Ratschläge ihm nahestehender Personen von sich, er solle doch aus Verantwortung seiner Familie gegenüber den Wehrdienst nicht verweigern. Was Jägerstätter tat, entsprach durch und durch seiner Gesinnung. Zugleich wies er oftmals darauf hin, wie sehr sein Verhalten auch im Sinne einer Verantwortung für Staat und Kirche zu werten sei. Sein einsamer Widerstand sollte zu einer Veränderung der Dinge beitragen und nicht nur seiner Gewissensnot entgegenkommen. „Christus fordert eine Religion der Gesinnung und Tat“, schreibt Jägerstätter. Oder: „Wir sollten nicht bloß Katholiken des Gebetes, sondern auch der Tat sein.“
Jägerstätter konnte sich nicht aufspalten in ein Herz, das bei der Familie blieb, in einen Leib, der für Hitler kämpfte und in eine Seele, die für Gott und die Kirche lebte.
11) Bereitschaft zu persönlichem Leiden
Als Jägerstätter sich entschied, seinem Einberufungsbefehl nicht mehr Folge zu leisten, war er sich der Konsequenzen sehr bewusst. Lieber entschied er sich für das Martyrium als sein Gewissen zu verraten. Kraft für solches Tun zog er wiederum aus der Orientierung an der Leidensgeschichte Jesu Christi. Allerdings kann Jägerstätter – genauso wenig wie anderen Pazifisten, die aufgrund ihrer Überzeugungen hingerichtet wurden -unterstellt werden, sie hätten freiwillig das Leiden gesucht. Der Gedanke eines Sühneleidens war Jägerstätter fremd. Das Leiden war die unvermeidbare Konsequenz ihres politischen Widerstands. Josef Schwabeneder nennt ihn daher einen „politischen Märtyrer“[19].
12) Gewaltfreie Spiritualität
Die Ablehnung des Militärischen fußt bei Franz Jägerstätter auf einer fundamentalen Entscheidung zu gewaltfreiem Handeln. Es ist die Entscheidung, Böses nicht mit Bösem zu beantworten. Jägerstätter: „… nach menschlichem Denken und Fühlen wäre es uns halt immer viel wohler, in manchen Sachen sich ein wenig zu rächen, aber nach christlichem Sinn ist es uns nicht erlaubt, wir müssen Böses mit Gutem vergelten.“ Jägerstätter war stets ohne Hass und Polemik gegenüber seinen „Gegnern“. Er enthielt sich jeglicher Verurteilungen von Menschen. Er hielt sich hingegen bis zuletzt an das Gebot der Bergpredigt: „Liebe deine Feinde!“ Einfach und eindrucksvoll formulierte es Jägerstätter wie folgt: „Wenn ich auch jetzt fest gegen den Nationalsozialismus losgehämmert habe, so ist es uns doch nicht erlaubt, über die Nationalsozialisten zu schimpfen. Weil es gegen das Gebot der Nächstenliebe ist. Wir dürfen verurteilen die nationalsozialistische Idee oder Gesinnung, aber nicht den Menschen selbst, der solche Gesinnung hat, denn es steht nur Gott allein zu, über den Menschen zu richten und ihn zu verurteilen, vor Gott sind wir eben alle Brüder und Schwestern.“
Selbst seinen Peinigern konnte Jägerstätter verzeihen: „Wenn man gegen niemanden Rachegedanken hat und allen Menschen verzeihen kann, wenn auch manchmal einem ein hartes Wort zugeworfen wird, so bleibt das Herz in Frieden und was gibt es Schöneres auf dieser Welt als den Frieden, …“[20]
Ein grundlegender Aspekt gewaltfreier Spiritualität ist der innere Frieden, den eine Person erlangt hat. Wer im Herzen Frieden hat kann gegenüber den Nächsten ohne Groll sein.
Voraussetzung ist weiters eine Haltung der Furchtlosigkeit. Wer sich in Gott geborgen weiß, der kann letztlich seine irdischen Ängste relativieren und selbst in schlimmsten Zeiten Sicherheit und Ruhe ausstrahlen. Mehrmals kritisierte Jägerstätter die Menschenfurcht. Er schrieb: „Was sind doch wir Katholiken oft für Feiglinge. Wir sind oft gar nicht mehr wert, diesen schönen Namen Römisch katholisch zu tragen. Wir leben und benehmen uns oft wirklich, als wären einmal die Menschen unsre Richter, sehr viele Menschen würden oft weit christlicher leben, wenn nicht diese elende Menschenfurcht wäre, …“[21] „…wenn die Menschenfurcht nicht wäre, dann würde es, glaube ich, zahlreiche Heilige geben auf dieser Welt? Und wo ist der Mensch, der nicht ein wenig an dieser Schwachheit zu leiden hätte?“[22]
13) Widerspruch zur vorherrschenden offiziell-kirchlichen Praxis
Franz Jägerstätter litt darunter, dass die österreichische Kirchenleitung eine höchst unglückliche Erklärung zum Anschluss abgegeben hatte. Noch mehr hatte er als gläubiger Katholik damit zu kämpfen, dass sein Entschluss zur Wehrdienstverweigerung von seinem Heimatbischof nicht entsprechend unterstützt worden ist. Jägerstätters Schicksal ist sinnbildlich für das Verhältnis von Kirche und Militär. Christliche Pazifisten und Pazifistinnen wurden seit der Konstantinischen Wende stets von den Großkirchen verdrängt, blieben von einem Großteil der Hierarchen unverstanden und konnten in kirchenamtlichen Texten kaum Unterstützung für ihr Tun finden. Franz Jägerstätter stand in der pazifistischen Tradition der katholischen Kirche – jener Tradition, die es seit Jesus Christus über die Kirchenväter, Waldenser, Franz von Assisi, Jakob Hutter und andere Heilige bis zu Oscar Romero gibt. In den Jägerstätter-Biographien wird stets betont, wie wichtig ihm Heiligen-Geschichten als Lebensvorbilder waren. Unter diesen Heiligen war beispielsweise auch der Schweizer Friedensheilige Klaus von der Flüe. Wahrscheinlich hat Jägerstätter auch die Äußerungen von Kirchenlehrern der frühen Kirche gekannt – zumindest weist er in scheinen Schriften auf die frühe Christenheit und argumentiert sein Nichtbefolgen des Einberufungsbefehles mit den christlichen Verweigerern zur Zeit der Christenverfolgung: „Wie konnte man früher so viele Christen heiligsprechen, die ihr Leben so leicht aufs Spiel gesetzt, natürlich ihres Glaubens wegen, die meisten von denen hätten keine so schrecklichen Befehle ausführen gebraucht, als jetzt von uns verlangt wird.“
Jägerstätter steht in der Tradition des Kirchenlehrers Lactantius, der zu Beginn des 4. Jahrhunderts schrieb: „Wer den Weg der Gerechtigkeit einhalten will, kann nicht an diesem kollektiven Mord teilnehmen. Wenn Gott uns zu töten verbietet, dann untersagt er uns nicht nur, Straßenraub zu begehen – was nicht einmal durch die öffentlichen Gesetze gestattet ist -, sondern er mahnt uns, auch das nicht zu tun, was bei den Menschen für erlaubt gehalten wird. So ist es dem Gerechten auch nicht erlaubt, Kriegsdienst zu leisten, da sein Kriegsdienst die Gerechtigkeit ist. … Daher darf es in diesem Gebot Gottes keinerlei Ausnahme geben, weil es immer ein Verbrechen ist, einen Menschen zu töten, den Gott doch als ein unantastbares Lebewesen gewollt hat.“
Abschließend: Jägerstätter als Ermutigung und Herausforderung für kirchliche Friedensarbeit in Österreich
Mit diesen Gedankengängen soll Franz Jägerstätter nicht zum Parade-Pazifisten stilisiert werden. Das würde seiner Person nicht gerecht werden. Gewiss muss seine Kriegsdienstverweigerung primär im Zusammenhang mit der Ablehnung des Hitlerfaschismus gesehen werden. Zugleich jedoch sollte klar geworden sein, dass pazifistische Grundeinstellungen in Jägerstätters Gestalt durch und durch zu finden sind. Demnach kann er von den heimischen Militärbefürwortern nicht vereinnahmt werden. Sehr wohl jedoch ist er eine Ermutigung für Kriegsdienstverweigerer in Österreich – also per Gesetz für alle Zivildiener – sowie für Pazifistinnen und Pazifisten, die an die prinzipielle Überlegenheit der Gewaltfreiheit glauben. Franz Jägerstätter ist vor allem auch eine Ermutigung und Herausforderung für Menschen und Organisationen in der katholischen Kirche in Österreich, die sich für die Sache des Friedens engagieren.
Klaus Heidegger, 21. Mai 2017, Gedenktag von Franz Jägerstätter
[1] Zum Leben des Franz Jägerstätters siehe folgende Literatur: Benesch Kurt: Die Suche nach Jägerstätter. Ein Biographischer Roman, Graz – Wien – Köln 1993; Bergmann Georg: Franz Jägerstätter. Ein Leben vom Gewissen entschieden, Stein a. Rhein 1988; Putz Erna: Franz Jägerstätter. … besser die Hände als der Wille gefesselt … Linz 1985. (Franz Jägerstätter); Putz Erna: Gefängnisbriefe und Aufzeichnungen. Franz Jägerstätter verweigert 1943 den Wehrdienst. Linz 1987. (Gefängnisbriefe)
[2] Zahn Gordon: In Solitary Witness. The Life and Death of Franz Jägerstätter, Springfield, Illinois, 1964.
[3] Es heißt darin: „Märtyrer wie Jägerstätter sollen nie das Gefühl haben, dass sie allein sind.“
[4] Berthold Himmelbauer, in: FURCHE, 23. August 2007, 12.
[5] „Zur Zeit“, das von Andreas Mölzer herausgegeben wird, ist bekannt für seine Nähe zur rechts-nationalistischen Ideologie. Bezeichnend sind auch die folgenden Ausschnitte:
„Manche unbelehrbare und ewiggestrige Altachtundsechiziger in der Kirche scheinen tatsächlich weitermarschieren zu wollen, bis alles in Scherben fällt.“
„Von Seiten der Wehrmachtsgerichtbarkeit war man geradezu bemüht, Jägerstätter goldene Brücken zu bauen … Jägerstätter musste ja nicht sterben, weil er einen Befehl verweigerte, der gegen göttliches Recht verstoßen hätte, sondern weil er grundsätzlich nicht an einem Krieg teilnehmen wollte, der seit der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation durch die Aliierten im Jahr 1943 von vielen als nunmehr gerechter Verteidigungskrieg angesehen wurde.“
„Der Jägerstätterkult ist eine gemachte und importierte Sache … Gerade deshalb musste man das Aussterben der frontgedienten Generation abwarten, um dem rotest derer zu entgehen, die sich durch eine Sligsprechung zu rech düpiert fühlen könnten.“
[6] So forderte beispielsweise der ehemalige Voristzende der Bundesheer-Reformkommission, Helmut Zilk, die sofortige Abberufung von Siegfried Locher. Siehe: KIRCHE, 26.8.2007,12. Angeblick hätte die Disziplinarabteilung des Heeres den Fall geprüft. (profil, 6. August 2007).
[7] In: DIE FURCHE, 30. August 2007, 12.
[8] Riedl Alfons, Schwabeneder Josef (Hg.): Franz Jägerstätter. Christlicher Glaube und politisches Gewissen, Thaur 1997, 11. (Riedl)
[9] Jägerstätter absolvierte seine Grundausbildung in der deutschen Wehrmacht von Oktober 1940 bis April 1941, wurde dann auf Betreiben seines Bürgermeisters als „unabkömmlich“ befreit und durfte auf seinen Hof zurückkehren.
[10] Wolkinger Alois, Christ, Staat und Krieg. Die Lehre der katholischen (Moral-)Theologie im Vorfeld des Nationalsozialismus, in: Riedl, 131.
[11] Palaver Wolfgang: Franz Jägerstätter und die Entwicklung der katholischen Friedensethik nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Riedl, 239ff. Wobei Wolfgang Palaver durchaus auch das Unterscheidende benennt, nämlich die Betonung individueller Gewissensentscheidung zur Stellung des Krieges und die Orientierung am Evangelium als oberster Maßstab.
[12] Schwabeneder Josef: Franz Jägerstätter – ein ‘politischer Märtyrer’, in: Riedl, 305.
[13] Putz Erna: Franz Jägerstätter – besser die Hände gefesselt als der Wille, 30.
[14] Scheuer Manfred, Trost und gefährliche Erinnerung. Zur Theologie der Heiligkeit und des Martyriums am Beispiel Franz Jägerstätter, in: Pax Christi Oberösterreich (Hg.): Franz Jägerstätter. Zur Erinnerung seines Zeugnisses, Linz 200, 135.
[15] Feldurteil gegen Franz Jägerstätter, zit. in: Putz Erna: Franz Jägerstätter verweigert den Militärdienst. Gründe – Reichskriegsgericht – Sanitätsdienst, in: Riedl, 40.
[16] Nach drei Jahrhunderten der Verfolgung wird das Christentum 313 unter Kaiser Konstantin zur Staatsreligion.
[17] Das war in dieser Zeit die volkstümliche Bezeichnung für die Zeugen Jehovas.
[18] Goss-Mayr Hildegard: Inspiration Franz Jägerstätter, in: Erinnerung, 85.
[19] Vgl.: Schwabeneder Josef: Franz Jägerstätter – ein politischer Märtyrer, in: Riedl, 277ff!
[20] Putz Erna: Gefängnisbriefe, 48.
[21] Putz Erna: Gefängnisbriefe, 104.
[22] Putz Erna: Gefängnisbriefe. Linz 1987,19. Ebenso schrieb Jägerstätter 1941: „Wir haben manchmal eine sehr dumme Angst, denn so lange wir Gott nicht beleidigen, brauchen wir uns ja nicht zu fürchten, denn das Sterben bleibt uns nie erspart, ob es jetzt etwas früher ist oder später.“ In: Putz Erna: Gefängnisbriefe, 21.