Wehrpflicht abschaffen

1      Einleitende Vorbemerkung

Der tragische Tod eines Rekruten in Niederösterreich Mitte August 2017 hat die Diskussionen um die Ausbildung von Soldaten im Österreichischen Bundesheer und damit in weiterer Folge auch die Frage der Wehrpflicht angeregt. Die Bundessprecherin der Grünen, Ingrid Felipe, sprach die Forderung aus, die Wehrpflicht abzuschaffen und das Bundesheer zu reformieren. Von FPÖ-Seite kam postwendend die Antwort, dass mit solchen Vorschlägen Felipe “eine massive Gefahr für den funktionierenden Katastrophenschutz in Tirol” sei und die Bundessprecherin “keinerlei Ahnung” habe, wie wichtig das Bundesheer sei.[1]

Die Nationalratswahl im Oktober 2017 ist jedenfalls ein guter Anlass, um die sicherheitspolitischen Fragen rund um Wehrpflicht neu in die Diskussion zu bringen. In einer Zeit, in der Soldaten des Heeres aus ersichtlich wahlkampfbedingten Motiven für militärische Flüchtlingsabwehr auf den Brenner kommandiert werden sollen, braucht es die demokratiepolitische Anfrage: Was kann, darf und soll unser Bundesheer leisten und wie könnten die notwendigen Aufgaben im Bereich der Asylpolitik, der Katastrophenhilfe oder Terrorbekämpfung von nichtmilitärischen Einrichtungen des Staates erledigt werden?

Bereits viereinhalb Jahre sind seit der Volksbefragung zur Wehrpflicht am 20.1.2013 vergangen. Damals wurde eine umfassende Reform des Bundesheeres versprochen und vor allem Verbesserungen in der Ausbildung der Rekruten in Aussicht gestellt. Die Bedeutung des Zivildienstes, so meinten auch militärkritische Geister, könne durch das System der Allgemeinen Wehrpflicht aufrechterhalten werden. Durch einen massiven Einsatz von Mitteln aber auch durch Uneinheitlichkeit innerhalb friedensbewegter Organisationen entschied sich eine knappe Mehrheit bei der Volksbefragung dafür, dass Österreich anders als etwa in der Bundesrepublik am bisherigen Wehrpflichtsystem festhält. Aus der Perspektive der Wehrpflichtgegner war es eine herbe Enttäuschung. Eine historische Chance ist nicht ergriffen worden. Noch nie in der Geschichte und in irgendeinem Staat dieser Welt hatte ein Volk direkt die Möglichkeit, sich von einem jahrhundertealten staatlichen Instrument der „Volksbewaffnung“ und der Militarisierung des Denkens und Fühlens zu befreien.

Damals wie heute dient der Zivildienst als Rettungsanker für die Wehrpflicht und damit für die Wehrdienste, was eigentliche eine absurde und skurrile Situation ist. Die Institution der Wehrdienstverweigerung soll die Institution Wehrdienst retten.

Heute wie damals wird die Bedeutsamkeit nichtmilitärischer Aufgabenfelder für die militärische Institution betont. Soldaten erscheinen mehr als Katastrophenhelfer denn als Menschen, die für eine militärische Aufgabe ausgebildet werden. In der öffentlichen Diskussion verdrängt wird dabei der eigentliche Inhalt der Wehrpflicht und die eigentliche Aufgabenstellung der Streitkräfte.

Der Fokus der folgenden Argumente liegt auf einer kritischen Auseinandersetzung mit der Wehrpflicht. Auch wenn das Ergebnis der Volksbefragung in einem demokratischen Sinne zu akzeptieren ist, ist es weiterhin erlaubt – gerade mit Blick auf die jüngsten Ereignisse und militärpolitische Entwicklungen – die Wehrpflicht und ihre Folgen einer Kritik zu unterziehen.

2      Tradition der Wehrpflichtkritik

Seit ihrer Einführung gibt es eine fundierte Tradition der Wehrpflichtkritik. Das kann mit zahlreichen Zitaten kurz genannt warden. Kurt Tucholsky etwa meinte: „Wenn eine Gruppe von Privatpersonen Menschen ihrer Freiheit beraubt und sie zwangsweise an einen bestimmten Ort verbringt, so nennt man diesen Vorgang Verschleppung und diese Gruppe einen Menschenhändlerring. Wenn eine Gruppe von Staatsbeamten Menschen ihrer Freiheit beraubt und sie zwangsweise an einen bestimmten Ort verbringt, so nennt man diesen Vorgang Wehrpflicht und diese Gruppe Militärverwaltung.“  Bis hin zu Päpsten wurde die Wehrpflicht kritisch gesehen. Von Papst Benedikt XV. wird folgende Stellungnahme aus dem Jahr 1917 überliefert: „Der obligatorische Militärdienst ist seit mehr als einem Jahrhundert die wahre Ursache unzähliger Übel gewesen; seine gleichzeitige und gegenseitige Aufhebung wird das wirkliche Heilmittel sein.“ Albert Einstein meinte in Anspielung an das berühmt Clausewitz-Diktum: „Wehrpflicht ist die Fortsetzung der Sklaverei mit anderen Mitteln.“ Literaturnobelpreisträger Bertrand Russel wiederum sprach: „Wer die Wehrpflicht befürwortet, befürwortet die Unterdrückung. Warum? … Wenn ich die Wehrpflicht befürworte, dann verlange ich nichts anderes, als das Recht, den Andersdenkenden gewaltsam dazu zwingen zu dürfen, entgegen seiner eigenen und sattdessen gemäß meiner Überzeugung zu handeln.“

Die Geschichte der Wehrpflicht ist nicht rühmlich. Schon Napoleon konnte auf dieser Basis Angriffskriege führen. Nach der Französischen Revolution begann im Jahr 1792 der Krieg Frankreichs mit den konservativen Mächten. Den Söldnerarmeen seiner Feinde stellte Napoleon bald Massenheere entgegen. Statt der stehenden Berufsarmeen, die das Kriegsbild des 18. Jahrhunderts bestimmt hatten, griffen nun die Bürger zu den Waffen. Die Idee des Volkskrieges war geboren. Aufgrund der hohen Verluste Frankreichs reichte die Bereitschaft von Freiwilligen schon längst nicht mehr. 1793 führte daher Lazare Carnot die levée en masse, die Wehrpflicht für alle ledigen Männer zwischen 18 und 25 Jahren ein. Die Jakobiner wollten sogar die gesamte Bevölkerung in den Krieg hinein ziehen. Preußen strebte nach der kriegerischen Niederlage ebenfalls eine militärische Aufrüstung an und machte es Frankreich gleich. Nach dem verlorenen Russlandfeldzug Napoleons stellte im Jahr 1813 Friedrich Wilhelm III. die Landwehr als improvisiertes Massenaufgebot für den Freiheitskampf offiziell auf. Ein Jahr später wurde das Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienst beschlossen.

Die Geschichte der Wehrpflicht zeigt auch, dass Berufsarmeen keinesfalls als grausamer angesehen werden können als dies Wehrpflichtarmeen waren. Im Gegenteil: Weil die Berufssoldaten oft mit so wenig Enthusiasmus kämpften, wurden von den Herrschenden stets drakonische Strafen erlassen, wenn „Söldner“ nicht genügend Einsatz zeigten. Aus der Habsburger Zeit gibt es das Beispiel aus Ungarn im Jahr 1848. Die Truppen weigerten sich, den Aufstand der Bevölkerung niederzuschlagen.

Im 20. Jahrhundert gehörte die Wehrpflicht zum Markenzeichen aller totalitären Staaten. Sie war das Mittel der totalen Aufrüstung. Im Ersten Weltkrieg wurden massenhaft Wehrpflichtige für einen selbstmörderischen Kampf rekrutiert. Nationalistisch aufgehetzte Volksheere gingen furchtbarer aufeinander los als dies Berufsarmeen je taten. Für die Nationalsozialisten war die Wehrpflicht eine Grundbedingung ihres Vernichtungskrieges. Die Soldaten kam aus der Mitte des Volkes. Genauso bestanden die Putscharmeen in Lateinamerika in den 1950er-, 60er- und 70er-Jahren aus Wehrpflichtigen, ebenso wie jene Griechenlands und der Türkei.

Der primäre historische und bleibende Sinn der militärischen Rekrutierung lag und liegt darin, dass ein Staat im Kriegsfall genügend Männer hat, die mit Maschinengewehren und Granaten hantieren können, die Panzer fahren und Lenkwaffen bedienen können. Gegenwärtig herrscht in vielen Ländern mit einem Wehrpflichtsystem Krieg.[2]  Syrien ist ein Beispiel. Ohne Wehrpflicht hätte es nicht diesen grausamen Krieg gegeben, hätten Bashar al Assad und sein Regime nicht jene Männer zur Verfügung gehabt, die bereits vor einem halben Jahrzehnt die Rebellion blutig niederschlugen. Auf beiden Seiten kämpfen Männer als Milizionäre, die das Töten in der verpflichtenden Grundausbildung gelernt hatten. Ohne Wehrpflicht hätte auch das Hitlerregime nicht jene Verwüstung über den Globus gebracht, an dessen Ende 80 Millionen Kriegstote, die Shoah und unglaubliche Verwüstungen waren. Besonders Österreich hat in den beiden Weltkriegen die furchtbarsten Erfahrungen mit der allgemeinen Wehrpflicht gemacht.

Die Zwangsrekrutierung hat dazu geführt, dass bis zum heutigen Tag in vielen Staaten dieser Welt Tausende Menschen verurteilt wurden, in Gefängnisse kamen oder mit Todesstrafe belegt wurden. Kriegsdienstverpflichtete Männer wie Franz Jägerstätter wurden als „Wehrkraftzersetzer“ hingerichtet. Zur Zeit der Nazi-Herrschaft wurden mehr als 30.000 Wehrdienstverweigerer verurteilt, 20.000 Todesurteile wurden vollstreckt. Auf Desertion bzw. „Fahnenflucht“ kann im Kriegsfall in einigen Staaten dieser Welt sogar die Todesstrafe verhängt werden. In der Türkei[3] oder in Israel werden Kriegsdienstverweigerer weiterhin strafrechtlich verfolgt und gesellschaftlich diskriminiert. Für die Diskussion ist daher wichtig, dass Zusammenhang von Wehrpflicht und Krieg sowie Wehrpflicht und Militarisierung stets im Blick bleibt.

Was Wehrpflicht bedeutet, versinnbildlicht folgende Anekdote aus meinem Lehrerdasein: Auf die Frage, was denn auf Englisch „Wehrpflicht“ heißt, kommt die Antwort eines Schülers, der Erfahrungen mit einschlägigen Computerspielen hat: „Call of Duty“. Die Antwort ist zwar falsch, enthält aber doch zugleich eine richtige Grunderfahrung. Wehrpflicht bedeutet  in Analogie zu den Ego-Shooter-Spielen in erster Linie die zunächst automatische Zuteilung der männlichen Jugend für gewaltsam-militärische Konfliktlösung.

3     Berufsarmee ist nicht gleich Berufsarmee.

Das von Wehrpflichtbefürwortern gepflegte Feindbild gegenüber „DER“ Berufsarmee ist wenig differenziert und unsachlich. Es gibt viele Arten von Berufsarmeen. Eine Differenzierung ist nötig.

Ingrid Felipe kann sich in ihrer Äußerung jedenfalls auf die militärkritischen Positionierungen innerhalb der Grünen Partei stützen. Das bisherige Berufsheer-Modell der Grünen hatte folgende Eckpunkte: Ein künftiges Heer nach der Abschaffung der Wehrpflicht könnte sich auf Assistenzleistungen im Inland und auf Friedensaufgaben im Ausland konzentrieren. Dies sah bereits die einstige Heeres-Reformkommission vor. Peter Pilz ging vor einigen Jahren noch von einem Modell aus, bei dem ein Berufsheer die Hälfte der gegenwärtigen Mannschaftsstärke haben könnte, was letztlich eine Reduzierung des Militärbudgets um ein Drittel bedeuten würde. Andreas Wabl sprach vom Beitrag für eine UNO-„Weltpolizei“, die allein das Gewaltmonopol hat. Realpolitisch gesehen könnte eine rot-grüne Mehrheit auf nationaler Ebene an solchen Modellen arbeiten, da es auch innerhalb der Sozialdemokratie – zumindest in der Ära vor Verteidigungsminister Doskozil – Sympathien dafür gab. Ex-Verteidigungsminister Darabos meinte ebenfalls, dass das Berufsheer um die Hälfte reduziert warden könnte. Zugleich sollte diese Berufsarmee durch eine kräftige Miliz ergänzt werden. Die Aufgaben der jetzigen Armee würden genauso – aber eben professioneller – erledigt werden können.

De-facto ist das Bundesheer unter einigen Gesichtspunkten bereits eine Berufsarmee. Das Bundesheer beschäftigt rund 20.000 Personen. Jeder sechste Staatsdiener der Nation ist bereits ein Berufssoldat oder ein ziviler Angehöriger des Heeres. Schon seit vielen Jahren geschieht zum einen die Integration in die NATO-Strukturen über die „Partnerschaft für den Frieden“ und zum anderen nehmen militärische Kooperationen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU zu.

Obenstehende Argumentation deutet auch daraufhin, das der Ausstieg aus der Wehrpflicht und eine konsequente Berufsarmee nicht automatisch eine Erhöhung des Wehretats nach sich ziehen würde. In den NATO-Ländern Frankreich, Spanien, Belgien und den Niederlanden sank seit dem Aussetzen der Wehrpflicht der Verteidigungsetat und wurden zugleich die Streitkräfte deutlich reduziert. So haben die Niederlande seit 1990 ihre Streitkräfte fast halbiert: von 104.000 Soldaten und einer Wehrpflichtrate von 45 Prozent im Jahr 1990 auf eine Sollgröße von 50.500 Soldaten im Jahr 2008. Damit verbunden war eine Halbierung des Anteils an Berufssoldaten und eine Verdoppelung des Bedarfs an Zeitsoldaten. Ähnliche Entwicklungen sind in Frankreich, Belgien und Spanien zu verzeichnen.

Verbunden mit der Umstellung auf eine Berufs/Freiwilligenarmee ist auch eine Reduktion der Aufgabengebiete. Der überwiegende Aufgabenbereich des Bundesheeres liegt derzeit in der Ausbildung der wehrpflichtigen Rekruten. Auch in vielen anderen Bereichen – wie dem Katastrophenschutz – könnten und sollten Aufgaben aus dem militärischen Bereich in zivile Bereiche verlegt werden. Damit könnte Österreich mit einem weitaus kleineren militärischen Apparat auskommen.

Eine Wehrpflichtarmee kann hingegen aufgrund ihrer Beschaffenheit nur sehr begrenzt reduziert werden. Sie wird immer einen großen Ausbildungs- und Systemerhaltungsapparat benötigen.

Die Budgetvorgaben und damit die finanziellen Möglichkeiten werden von Regierung und Parlament beschlossen. Eine kleine Berufsarmee, die auf einige wenige Aufgaben reduziert wird, wird weniger verbrauchen als eine Berufsarmee, die für sich sehr viele Aufgabengebiete beansprucht.

4     Wehrpflicht schafft keine Demokratisierung

Stimmt die These, dass eine Freiwilligenarmee „leichter“ für „partikulare Interessen“ instrumentalisiert werden könnte als eine Wehrpflichtigenarmee? Stimmt es, dass durch Wehrpflichtige das Militär „gezähmt“ würde? Ist der „Bürger in Uniform” nicht vielmehr eine fromme Illusion?

Unermüdlich wird in der österreichischen Diskussion auf das Jahr 1934 verwiesen.[4] Damals haben Berufssoldaten auf Arbeiter geschossen. Dieses Ereignis ging als Trauma in die Geschichte der sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen in Österreich ein. Gerade für sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Friedensbewegte folgt daraus ein Festhalten an der Wehrpflicht und einer „Volksbewaffnung“.

Im Nachhinein kann jedoch auch gefragt werden: Hätte eine Wehrpflicht diese Aktion der Berufsarmee im Jahr 1934 verhindern können? Es bleibt jedenfalls eine Behauptung, sicherlich aber kein Beweis dafür, dass mit Wehrpflicht ein Schutz vor Militärmissbrauch gegeben sei. Weiters wird dadurch weder mitbedacht, dass die Hauptschuld bei der Regierung Dollfuß gesehen werden muss und dass anfangs der Polizei und der Gendarmerie der Befehl für den Angriff gegeben wurde, der von der Heimwehr unterstützt wurde. Der wiederholte Hinweis auf dieses Ereignis macht die These, dass mit Wehrpflicht eine Demokratiegefährdung durch das Militär oder dessen Einsatz gegen eigene Bevölkerungsteile verhindert werden könnte, nicht richtiger.

Eine Gegenthese zeigt der Blick auf die Wehrpflicht-Landkarte. Beispiel Türkei: Es ist zweifelsohne ein Staat mit einer starken Wehrpflichtkomponente. Zugleich ist die Türkei jener Staat, wo in jüngster Zeit besonders häufig militärische Staatsstreiche stattgefunden hatten. Die Wehrpflicht hat wohl nicht dazu beigetragen, dass in Militärgefängnissen weniger gefoltert worden ist. Amnesty international und andere Menschenrechtsgruppen haben in den vergangenen Jahrzehnten bis zum heutigen Tag junge Männer in Schutz genommen, die in der Türkei Opfer der Wehrpflicht geworden sind. Wer war in den kurdischen Gebieten im Einsatz? Wehrpflichtige haben nicht verhindert, dass kurdische Dörfer niedergebrannt worden sind. An den Vergewaltigungen waren auch Wehrpflichtige beteiligt. Es wäre ein nationalistischer Chauvinismus, wenn behauptet würde, dass dies eben die Türkei ist und dass dies in anderen Ländern nicht vorkommen würde. Es liegt nicht an der Nationalität. Es liegt auch in militaristischem Denken – und in vielen Fällen sind es Berufssoldaten, die gerade wegen ihrer Professionalität im Umgang mit Gewaltsituationen einen „kühleren Kopf“ bewahren als In-den- Krieg-Gezwungene.
Nirgendwo lässt sich eine pazifizierende Wirkung einer Wehrpflichtarmee behaupten. Das Argument, dass durch die wehrpflichtbedingte Verankerung eines Heeres in einer Bevölkerung weniger leicht eine Armee missbräuchlich zum Einsatz käme, stimmt einfach nicht mit Blick auf vergangene oder gegenwärtige Kriegssituationen. Dem Argument, dass Profi-Soldaten „skrupelloser“  wären als Wehrpflichtige und Milizionäre, muss mit Blick auf die vielen Kriege in Geschichte und Gegenwart widersprochen werden. Die „Professionalität“ von Soldaten zeigt sich vielmehr immer wieder darin, dass sie in kriegerischen Extremsituationen nicht so leicht einem nationalistischen Blutrausch unterliegen. Professionalität kann aber auch bedeuten, dass Soldaten bestens ausgebildet werden, in Kriegssituationen als echte Peace-keeper und Peace-builder tätig zu sein.

5     Militärische Katastrophenbewältigung

Wehrpflichtbefürworter argumentieren, man bräuchte ein starkes Heer, um in Katastrophenfällen genügend Männer zu haben. Ohne Wehrpflichtheer, so die Angstmache, würden im Ernstfall – bei Überschwemmungen, Vermurungen oder Lawinenunglücken – zuwenig Einsatzkräfte vorhanden sein. Bundesheer-Werbespots zeigen Soldaten beim Sandsäckeschleppen gegen Hochwasser.

Das Aufgabengebiet Katastrophenschutz zählt nicht zum Kernbereich des Militärischen. Eine Armee ist keine freiwillige Feuerwehr. Katastrophenschutz kann von zivilen Einrichtungen – beispielsweise den Feuerwehren – besser und kostengünstiger organisiert werden. So hat Österreich 340.000 Personen im Feuerwehrverband. Motto: Für das Sandsäcke-Tragen braucht es keine Ausbildung mit der Waffe, für den Hochwasserschutz sind Panzer ungeeignet.

Aus demokratiepolitischer Sicht ist es zugleich bedenklich, wenn der Aufgabenbereich Katastrophenschutz ganz zentral zum Aufgabenprofil des Militärs gerechnet wird. Selbst in Österreich ist laut herrschendem Recht das Militär für Katastrophenhilfe lediglich auf Antrag des Innenministeriums bzw. des Bundeskanzleramtes für Assistenzleistungen berechtigt. Insofern wäre es sinnvoller, den Bereich Katastrophenschutz ganz im Innenministerium und/oder Bundeskanzleramt anzusiedeln und ihm dafür entsprechende Mittel und Infrastruktur – auch aus den Mitteln des Militärs – zur Verfügung zu stellen.

Bei der Konversion des Heeres können militärisches Personal und Infrastruktur  teilweise für Aufgaben im Bereich des Katastrophenschutzes genützt werden. Professionelle Kräfte können effizienter und professioneller bei Katastropheneinsätzen zur Verfügung stehen als schlechtausgebildete Grundwehrdiener. Insofern käme die Professionalisierung des Heeres auch einer Professionalisierung der Katastrophenbewältigung entgegen.

Ein wesentlicher Teil der Unwetterkatastrophen ist bedingt von den klimatischen Veränderungen. Gerade militärische Apparate haben aber einen riesigen ökologischen Fußabdruck. Militärabschaffung fällt daher in den Bereich der Katastrophenprävention.

Die Befürworter einer Freiwilligenarmee argumentieren mit pragmatischen Argumenten ganz auf der Linie des bisherigen Konzeptes militärischer Katastrophenbewältigung – nur mit dem Unterschied, dass es dafür keine Wehrpflichtigen bräuchte: Auch eine Berufs- oder Freiwilligenarmee würde den Katastrophenschutz übernehmen können, wenngleich wesentlich effizienter.12.500 Mann würden laut dem damaligen Darabos-BMLV-Modell weiterhin für den Katastrophenschutz zur Verfügung stehen. Vertreter ziviler Katastropheneinrichtungen werten diesen Beitrag als durchaus ausreichend.[5]

6     Freiwilligendienste und bezahlte Sozialdienste fördern und sichern

Wehrpflicht ist Zwang. Junge Männer werden vom Staat gezwungen, in einer wichtigen Phase ihres Lebens – dann, wenn es um eine Berufs- bzw. Studienentscheidung geht – ein Jahr auszusetzen. Tatsächlich handelt es sich meist um ein Jahr und nicht um die 6 Monate Grundwehrdienst oder 9 Monate Zivildienst, da ein schräges Einsteigen in ein Studium kaum möglich ist. Wer beispielsweise nach der Matura am 1. 10. einrücken würde, verliert ein ganzes Studienjahr, auch wenn der Grundwehrdienst nur 6 Monate dauert. Noch größere Verzögerungen könnte es beim neunmonatigen Zivildienst ergeben, wenn beispielsweise bei einer Einrichtung der Dienst im März beginnen würde. Wenn Dienste freiwillig gewählt werden, sei es im Rahmen eines bezahlten Sozialjahres, eines Freiwilligendienstes oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit, so kann dies entsprechend der Lebens- und Berufsplanung selbst am besten eingeteilt werden.

Ein Großteil von wichtigen und unentbehrlichen Aufgaben, die gegenwärtig von den Zivildienstleistenden erbracht werden, könnten durch ein finanziell und sozial abgesichertes System von Sozialdiensten und Freiwilligendiensten abgedeckt  werden. Solche Dienste wären – im Gegensatz zum Zivildienst – weder an ein bestimmtes Geschlecht gebunden noch an eine bestimmte Altersstufe. Für junge Menschen könnten solche Dienste auch eine wichtige Erprobungsphase für eine künftige Berufsentscheidung sein. Negative Begleiterscheinungen, die auch mit dem Zivildienst verknüpft sind, würden entfallen. Dazu zählt beispielsweise die Tatsache, dass in manchen Bereichen Zivildiener als Billigstarbeitskräfte eingesetzt werden, wo es an notwendigen Fachkräften fehlt

Grundsätzlich ist es wichtig, zwischen verschiedenen Arten von Diensten zu unterscheiden, die in einer Phase nach dem Zivildienst angeboten werden und auch teilweise die Tätigkeiten von Zivildienstleistenden ersetzen werden.

Freiwilligendienste, die wie bisher beispielsweise im Rahmen des Freiwilligen Sozialjahres geleistet wurden, die sozialrechtlich abgesichert sind und auch kostendeckend für den Freiwilligen geleistet werden, jedoch nicht in Form eines bezahlten Quasi-Dienstverhältnisses. Solche Volontariate, die dem Charakter der Ehrenamtlichkeit entsprechen, sollten gefördert und ausgebaut werden und sind sicherlich gerade in einer Post-Zivildienst-Zeit umso wichtiger. Die Bereitschaft von jungen Menschen für solche Dienste ist jedenfalls gegeben. Die Motivation, um einen solchen Dienst zu leisten, ist nicht Eigennutz oder um etwas zu verdienen, sondern verknüpft mit altruistischen Zielsetzungen. Die bewährten Einrichtungen von Freiwilligendiensten, wie beispielsweise die Auslandsdienste, die Friedens- und Gedenkdienste, das Freiwillige Soziale Jahr oder die Freiwilligendienste der Caritas, könnten durch die Abschaffung der Wehrpflicht bei entsprechender Förderung sogar Auftrieb und Stärkung bekommen. Allerdings werden diese Freiwilligendienste nur einen kleineren Teil der bisherigen Zivildienste ersetzen, sollte dieser abgeschafft bzw. ausgesetzt werden-

Bezahlte Sozialdienste, wie sie in einem Modell des Sozialministeriums im Zusammenhang mit der Volksbefragung ausgearbeitet wurden, könnten Zivildienst-Arbeiten ersetzen.[6] Das Sozialjahr könnte auch z.B. auf die Berufsausbildung angerechnet werden oder für Aufnahmeprüfungen an Unis oder Fachhochschulen sowie beim Einstieg in den öffentlichen Dienst als Bonus verwendet werden. Die Finanzierung solcher Dienste könnte zum großen Teil aus dem gegenwärtigen Etat für den Zivildienst umgeschichtet werden, für den jährlich 142 Millionen Euro vorgesehen sind. Sozialminister Hundstorfer hat damals ein Modell vorgelegt, demnach für die Sozialdienste 211 Millionen Euro aus dem Budget zu zahlen wären. Laut dieser Rechnung wäre das Sozialjahr-Modell von Hundstorfer also nicht teurer als das alte Zivildienstmodell und würde zudem mehr Effizienz bedeuten. Weiters rechnete Hundstorfer vor, dass diese bezahlten Sozialdienste ohnehin aufgrund der geburtenschwachen Jahrgänge auch unter Wehrpflichtbedingungen teilweise eingeführt werden müssten.

Mehr reguläre Arbeitsverhältnisse im Sozial- und Gesundheitsbereich bzw. im Feld der Friedensforschung und der Ausbildung von Friedensfachkräften sind ein dritter Bereich, um Tätigkeiten von Zivildienern zu ersetzen. Ein Teil von Diensten, die gegenwärtig von Zivildienern erledigt werden, könnte durch die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen im Sozial- und Gesundheitsbereich substituiert werden, was eine Professionalisierung dieser Dienstleistungen bewirken würde zugunsten von jenen Menschen, die dieser Dienste bedürfen. Zwangsdienste wären hingegen auch im Widerspruch zum Grundrecht der Freiheit von Zwangsarbeit.

7     Ohne Wehrpflicht – ein Staat mit neuen Möglichkeiten

Die Befreiung vom Kriegsdienstzwang wird eine Politik beenden, in der versucht wurde, alle jungen Männer auf gewalttätige Konfliktlösungsmuster festzulegen. Die Wehrpflichtabschaffung kann dazu beitragen, dass in allen Bereichen – privat wie öffentlich – nicht mehr auf die Karte der Gewalt gesetzt wird und gewaltfreie Konfliktstrategien eingeübt werden. Wenn es keine Wehrpflicht mehr gibt, können jene nichtmilitärischen Konzepte und Ideen mehr Platz bekommen, die durch eine Fixierung auf gewaltsame Modelle in den Hintergrund gerückt wurden. Die „Denkfaulheit“könnte durchbrochen werden und würde neue Wege aufzeigen, wie Frieden und Sicherheit auf nationaler und internationaler Ebene geschaffen werden können Es ist eine Zukunft, in der Männer und Frauen ausgebildet werden, Kriegsursachen zu beseitigen, und trainiert werden, wie im „Ernstfall“ ohne Waffengewalt Verteidigung geschehen kann, wie Feinde zu Freunden werden können, wie Versöhnung geschehen kann. Es ist eine Zukunft mit einer Fülle an freiwilligen Diensten, die staatlicherseits gefördert und teilweise finanziert werden – gerade auch um Lücken zu füllen, die durch den Wegfall der Zivildiener entstehen. Der Verzicht auf militärische Verteidigung schafft eine Friedensdividende, finanzielle Mittel, die so dringend gebraucht werden für gewaltfreie Konzepte und für ökologische und soziale Maßnahmen. Die anzustrebende Alternative zur Abschaffung der Wehrpflicht ist weder eine Berufsarmee  mit Freiwilligenkomponenten noch die Einführung einer Allgemeinen Dienstpflicht, sondern die Vision des schrittweisen Umbaus der Wehrpflichtarmee auf nichtmilitärische Aufgabenfelder und die Etablierung eines ausreichend finanzierten Freiwilligensystems. Insofern könnte der Staat Österreich ein Modell realisieren, das einzigartig auf dieser Welt wäre und als Modell für eine vollständige Entmilitarisierung dienen könnte. Kleine Länder wie Österreich haben größere Chancen für die konkrete Vision eines armeefreien und dennoch und gerade deswegen ausreichend gesicherten Landes. Ein armeefreies Land ist kein wehrloses Land, sondern baut seine Sicherheit präventiv auf Konfliktvermeidung und seine Verteidigung auf dem Instrumentarium der gewaltfreien Konflikttransformation, nichtmilitärischer Gewaltintervention und Gewaltabwehr auf. Die Bereitschaft dazu steigt, je weniger auf die vermeintliche und täuschende Sicherheit der militärischen Systeme mit ihrem demokratiefeindlichen Potenzial und ressourcenintensiven Apparat gesetzt wird. Dann werden die Menschen auch erkennen, wo die wirklichen Gefahren für die Welt und die Gesellschaft liegen, weil sie nicht mehr den Staub von Panzerkolonnen in den Augen und das Gedröhne der Kampfjets in den Ohren haben. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es jedoch auf demokratischem Wege Änderungen. Die regierende Politik wird erst zu fundamentalen Änderungen bereit sein, wenn die Pazifisten und Pazifistinnen in diesem Land eine kritische Masse[7] erreicht haben.

Klaus Heidegger, 16. 8. 2017
[1] Zit. in : Tiroler Tageszeitung, 15.8.2017.

[2] Länder mit Wehrpflicht, die gegenwärtig in Kriege oder kriegerische Situationen verstrickt sind: Türkei, Russland, Israel, Burma, Sudan, Mali, Mexiko (Drogenkrieg) u.a. In den USA ist Wehrpflicht prinzipiell nicht abgeschafft, sondern quasi ruhend gestellt.

[3] Die türkische Armee hat eine Stärke 720.000 Personen, darunter sind 210.000 ausgebildete Berufssoldaten. Besonders hoch ist die Zahl der Selbstmorde. Wer es sich leisten kann, versucht sich mit einem hohen Betrag von der Wehrpflicht freizukaufen, wodurch es zu einer sozialen Auslese bei den Wehrpflichtigen kommt.

[4] In diese Richtung tendieren einige „linke“ Organisationen, die daher an der Wehrpflicht festhalten wollen. So beispielsweise die KPÖ oder die Vereinigung Demokratischer Soldaten (VDSÖ). Dessen stellvertretender Obmann Josef Baum wies auf die demokratiepolitisch bedenklichen Aspekte hin, „die Lektion aus dem Jahr 1934 hat man hoffentlich gelernt. Dennoch besteht die Gefahr, dass ein Freiwilligenheer zum Sammelbecken für demokratiefeindliche Kräfte werden könnte.“

[5] So sah es Albert Kern, Präsident des Österreichischen Feuerwehrverbandes. Er betrachtet die vorgesehene Zahl von 12.500 Kräften, die im BMLV-Darabos-Modell für Kriseneinsätze zur Verfügung stehen, als „ausreichend. Denn bei unseren Katastrophen – etwa den Vermurungen in der Steiermark – haben wir meist 200 bis 400 Soldaten pro Tag mit vor Ort – ansonsten stehen sich die Einsatzkräfte ja mitunter gegenseitig im Weg.“ In: DER STANDARD, 15.12.2012. Problematisch sieht er es allerdings, wenn Milizsoldaten für ihre Tätigkeit 5000 Euro bekommen sollten, während für ehrenamtlich arbeitende Feuerwehrleute nichts gegeben wird und auch die arbeitsrechtliche Situation nicht optimal ist. Daher müsste hier der Gesetzgeber nachjustieren.

[6] Diese Dienste wären offen für alle Männer und Frauen ab 18 bis zur Pension, würde mit 1.386 Euro brutto Pauschale 14x kollektivvertraglich entlohnt werden. Pro Jahr sollen 8000 Sozialjahr-Arbeitsplätze geschaffen werden – gegenüber derzeit 9644 Zivildienern (auf Volljahresbeschäftigung hochgerechnet, ansonsten 13.500 Zivildiener). Die Differenz ist also geringfügig

[7] Das Konzept der CM (critical mass) setzt voraus, dass erste eine gewisse Anzahl von Personen jenen Aufmerksamkeitsfaktor mit sich bringt, um überhaupt gehört und beachtet zu werden.

Kommentare

  1. Wehrpflicht, Dienstpflicht oder Gesellschaftsjahr – egal, wie man es nennt, es ist und bleibt nichts anderes als staatlich verordnete Zwangsarbeit! Hier werden unschuldigen Jugendlichen und Heranwachsenden in Anlehnung an das Gefängnisrecht die elementarsten Grundrechte entzogen (freie Arbeitsplatzwahl, freie Wohnungswahl, freie Meinungsäußerung etc.) und natürlich auch das Recht ihr Leben selbst zu gestalten.

    Bei uns in Deutschland diskutiert man in konservativen Kreisen schon wieder über die (Wieder-)Einführung der allgemeinen Dienstpflicht (früher: Reichsarbeitsdienst) und versucht sie als Gesellschaftsjahr getarnt unters Volk zu treiben! Stünde eine solche erst einmal in der Verfassung, könnten Sie zu jedem x-beliebigen Dienst in sog. Mangelberufen herangezogen werden! Männer auf dem Bau, in Schlachthöfen, Frauen in Putzkolonnen – alles wäre denkbar – Missbrauch und Ausbeutung wären Tür und Tor geöffnet! Diese krude Idee von AKK, Spahn und Ziemiak verstößt eindeutig gegen so ziemlich alle Artikel unserer Verfassung (insb. Art. 12: Verbot der Zwangsarbeit) und gehört stante pede in die Tonne getreten!

    Nebenbei bemerkt, die drei erwähnten Protagonisten haben nie gedient und mussten sich niemals mit den Schattenseiten eines wie immer gearteten Zwangsdienstes auseinandersetzen! Schäbig, wie solche Politiker die Freiheit, ihr Leben selbst zu gestalten, unseren Jugendlichen vorenthalten wollen, wohingegen sie diese selbst in vollen Zügen genießen durften! Ich frage mich daher nach dem Motiv dieser sog. Volksvertreter, und warum sie unseren Jugendlichen das freie Leben so neiden! Oder sind es gar einige mächtige Lobbyisten der privaten Pflegekartelle, die sich in Berlin (resp. Wien) gegenseitig die Klinke in die Hand geben, um an billige Arbeitssklaven zu kommen?

    Fazit: Von mir jedenfalls wird kein Politiker und keine Partei eine Stimme bekommen, der/die sich nicht dezidiert gegen einen Zwangsdienst ausspricht! Darüber hinaus möchte ich meine Steuergelder in die bessere Bezahlung von Pflegekräften (auch THW, Feuerwehr, Polizei und Bw) investiert wissen, und nicht in Zwangsmaßnahmen, die nur allein dazu dienen, unsere künftige Generation zu knechten!

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