Weg der Gerechtigkeit für die Ausgegrenzten

Eine politische Lektüre von Matthäus 21,28-32

In dieser Stelle aus dem Matthäusevangelium fällt zunächst auf, dass Jesus seine Worte bewusst an die Hohenpriester und Ältesten des Volkes richtet. Sie waren die Mächtigen. Sie waren verantwortlich für den Weinberg. Der Weinberg wiederum ist ein Symbol für die Gesellschaft. Die Hohenpriester und Ältesten, das Synhedrium, kollaborierte mit den römischen Besatzungstruppen. Die Hohenpriester und Ältesten sind diejenigen, die laut Passionsberichten in den Evangelien Jesus zur Verurteilung ausliefern. Die Worte Jesu stellten ihre Autorität und Machtausübung infrage. Das regte sie auf. Ganz in der prophetischen Tradition stehend erinnerte sie Jesus daran, was ihre wichtigste Aufgabe wäre. Nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft beizutragen und die Kleinen und Schwachen zu schützen. Ganz unten in der Sozialhierarchie sind die Ausgegrenzten, von denen Jesus nun spricht. Die Dirnen. Frauen, die in Schuldsklaverei gerieten und von Männern missbraucht und zur Ware degradiert wurden. Im Reinheitssystem, das von den Hohenpriestern und Ältesten aufrechterhalten wurde, waren sie nochmals deklassiert. Sie durften nicht einmal am religiösen Leben teilnehmen und mussten sich religiös stigmatisiert fühlen. Doch Jesus widerspricht dieser Situation fundamental. Jesus spricht ihnen das Reich Gottes zu. Das ist der „Weg der Gerechtigkeit“.

Wichtig ist hier, nicht in die Interpretationsfalle einer idealistischen und unpolitischen Sichtweise zu verfallen, wie wir sie oft in exegetischen Büchern und Predigten finden. Es geht nicht darum, dass die Zwangsprostituierten umkehren sollen wie ein Sünder, der von seinem falschen Tun ablässt. Die Dirnen waren Sklavinnen, die von reichen Männern wie Ware behandelt wurden, feilgeboten in den Städten Palästinas für die sexuellen Bedürfnisse von römischen Besatzungssoldaten. Einige von den Dirnen waren Kriegsbeute, andere von den eigenen Eltern wegen Geldmangel und Verschuldung verkauft. Es geht nicht darum, dass jene umkehren, die ohnehin die Opfer sind, sondern die Täter müssen aus ihrer Täterrolle herausgeführt werden. Es geht darum, dass sich die politischen Verhältnisse ändern, dass die Systeme der ökonomisch-politischen Ausbeutung verbunden mit religiös-kulturellen Stigmatisierungen abgelöst werden und die Königsherrschaft Gottes beginnen kann.

Die Gruppe der Zöllner muss differenzierter gesehen werden. Sie waren zwar selbst Juden, wurden aber im Volk als „Sünder“ betrachtet, weil sie aufgrund ihrer Tätigkeit mit der römischen Besatzungsmacht zusammenarbeiteten. So galten sie quasi als Verräter. Der Apostel Matthäus, unter dessen Autorität das Matthäusevangelium gestellt wurde, soll selbst einmal Zöllner gewesen sein. Warum werden sie hier als jene bezeichnet, die ins Reich Gottes kommen können? Jesus spricht es an: Durch eine unerwartete Wende – wenn sie beispielsweise ihre Stellung nicht mehr verwenden, um andere auszunehmen – oder wenn sie überhaupt die politische Seite wechseln und die Kollaboration mit den Ausbeutern beenden. So könnten sie „den Willen des Vaters“ erfüllen.

Zurück zum Anfang: Jesus spricht die religiös-politische Elite in ihrem Machtzentrum, dem Tempel von Jerusalem, an, an jenem Ort, wo ein ungeheurer Tempelschatz gelagert war. „Räuberhöhle“ hatte Jesus diesen Ort bezeichnet und unmittelbar vor dieser Stelle im Evangelium fand die „Reinigung des Tempels“ und der politisch höchst eindrucksvolle Einzug in Jerusalem statt. Die Tempelkritik Jesu und seine Kritik an den Herrschaftsverhältnissen bedeuten letztlich, dass Jesus von der jüdischen Lokalaristokratie an die römische Besatzungsmacht ausgeliefert wird. Der letzte Versuch Jesu, Hohepriester und Älteste für die Sache des Volkes zu gewinnen, scheitert.

Bei einer politischen Lektüre des Evangeliums, die dem Wesen des Neuen Testaments wohl am meisten gerecht wird, sind wir beim Wahlkampfthema 2017. Es geht um Gerechtigkeit. Wer vertritt eine Politik, die wie Jesus die ganz Schwachen in den Blick nimmt? Es würde eben nicht bedeuten, die Mindestsicherung für die Asylberechtigten um die Hälfte zu kürzen. Wer trägt zu einer Spaltung der Gesellschaft bei? Es würde eben nicht bedeuten, die 700.000 Muslime hierzulande unter Generalverdacht zu stellen, indem vor einem „politischen Islam“ gewarnt wird. Wo sind heute Mädchen und Frauen, die sexuell ausgebeutet werden und Opfer sexueller Gewalt sind? Die Leidensgeschichten von Frauen, die aus ihren Heimatländern geflohen sind, sind bekannt. Um ihnen gerecht zu werden, bräuchte es eine offene Asylpolitik. Im Weinberg dieser Welt würde das große Teilen beginnen, das beispielsweise der Zöllner Zachäus praktizierte, indem er spontan die Hälfte seines Vermögens mit den Armen teilte. Im heutigen Politjargon geht es in die Richtung einer „Erbschaftssteuer“. Was das Evangelium wieder einmahnt ist eine Änderung der sozio-ökonomischen Verhältnisse, wo nicht länger Reiche auf Kosten von Armen leben, sondern Reiche beginnen, ihren Reichtum mit anderen zu teilen. Heute sagen wir: Es braucht einen starken Sozialstaat, der zu einer gerechten Verteilung von Lebenschancen beiträgt, wo niemand mehr Not leiden muss und jeder und jede sich mit ihren Fähigkeiten und Talenten gut einbringen kann.

 

Klaus Heidegger, 1.10.2017