Die Bibel: „Viel-Stimmen-Buch“
Am liebsten nehme ich die Bibel mit in meinen Unterricht. Sie ist mir liebgewonnene Begleiterin im Schulalltag: Nicht um die Schülerinnen und Schüler mit biblischen Geschichten zu indoktrinieren, sondern damit sie selbst anhand dieser Erzählungen ihr eigenes Leben und gesellschaftliche Vorgänge deuten können. Es stimmt, was der Dichter Kurt Marti über das Buch der Bücher formulierte:
„Viel-Stimmen-Buch also,
geselliges Buch
(geselligstes der Weltliteratur!):
in ihm wird
die EINE,
die verlässliche Stimme
der geselligen Gottheit laut.“
Dabei achte ich im Unterricht darauf, dass das Erste Testament als Schlüssel zum Verständnis des Neuen Testaments ausreichend Platz findet. Der Großteil der biblischen Schriften ist den Schülerinnen und Schülern allerdings fremd. Diese Fremdheit kann einerseits Ablehnung bedeuten. Fremdheit kann zweitens aber auch Neugier wecken, weil es viel Neues zu entdecken gilt. Manche Geschichten eignen sich besonders, um die biblischen Grundaussagen herauszuarbeiten. Eine davon ist das Buch Esther, das so kurz ist, um auch im Unterricht als Ganzes gelesen zu werden. Das heutige Purimfest (28.2./1.3.2018) ist der Anlass, dies zu tun.
Esther im biblischen Kanon
In der hebräischen Bibel zählt dieses Buch zu den Schriftrollen (Megillot), die wie das Buch Rut, Hohes Lied, Kohelet und Klagelieder zu bestimmten Festtagen gelesen werden. Das Buch Esther zählt zu den Weisheitserzählungen. Die Estherrolle ist im 3. Jahrhundert v. Chr. in der jüdischen Diaspora entstanden. Das Volk Israel war im Exil und unter Fremdherrschaft.
Skizzen der Esther-Geschichte
Ort der Handlung ist Susa, die persische Hauptstadt. Es ist das Jahr 355 vor Christus. Der Jude Mordechai lebte dort. Er erfährt von einem Anschlag auf den persischen König Achaschverov. Er soll vergiftet werden. Mordechai warnt den König. Die Attentäter werden verhaftet. Mordechai soll belohnt werden. Haman war der Auftraggeber für das Attentat, doch bleibt es verborgen. Esther – die Nichte von Mordechai – also auch eine Jüdin – wird als Königin ausersehen. Haman wird zum wichtigsten Minister ernannt. Er führt ein gewalttätiges Regime. Mordechai widersetzt sich dieser Herrschaft. Haman möchte nun Mordechai und mit ihm alle Juden töten lassen und klagt sie des Aufruhrs an. Der König stimmt zu, dass sie getötet werden. Esther erfährt von diesem Plan durch Mordechai. Sie dürfte nicht zum König gehen. Das wäre Gehorsamsverweigerung, worauf die Todesstrafe steht. Esther jedoch tut es trotzdem. Der König hört ihr zu und geht auf ihren Plan ein, gemeinsam mit Mordechai zu einem Essen zu kommen. Der König erinnert sich an Mordechai, der ihm das Leben gerettet hatte. Er möchte ihm nun seine Dankbarkeit erweisen. Er soll auf einem königlichen Pferd und in purpurnem Gewand in die Stadt reiten. Der König und Haman sind beim Essen bei Esther. Aus Dankbarkeit verspricht ihr der König, alles zu geben, was sie sich wünscht. Esther erzählt dann, dass sie selbst Jüdin sei und ihr Leben wie das Leben des ganzen jüdischen Volkes wegen Haman in Gefahr sei. Darauf wird Haman bestraft und Mordechai wird zum Minister ernannt. Das jüdische Volk wird vor dem Genozid gerettet.
Widerstand gegen Sexismus
Hinter dieser einfachen Geschichte, die sich eignet, auch in der Volksschule zu erzählen, steckt zugleich das Aufdecken eines Systems des Sexismus und der Gewalt, was freilich eine reifere Reflexion voraussetzt. Bevor Esther in den Mittelpunkt rückt, wird im ersten Kapitel folgende Situation geschildert. Der persische König regiert autokratisch auf seinem Thron und lässt sich opulent feiern. Als ein Teil dieser Feier soll sich die schöne Königin Waschti vor den versammelten Männern entblößen. Da heißt es: „Aber die Königin Waschti weigerte sich.“ Sie beweist ihre Widerständigkeit und Eigenständigkeit gegen den König. Der weibliche Widerstand soll – so die mächtigen Männer – aber gebrochen werden. Ein weiterer Aspekt der Männergewalt wird sichtbar, als der König anordnet, die schönen Mädchen einzufangen, um unter ihnen eine neue Königin zu finden. Es soll eine Art „Persia’s Next Topmodel“ stattfinden, wobei die Frauen dies freilich nicht freiwillig machen. Esther wird dann ausgewählt und in gewisser Weise zur Anpassung gezwungen. Allmählich aber gelingt es ihr, zwar nicht mit jener Klarheit wie Waschti, die herrschaftlichen Gewaltverhältnisse zu durchbrechen, wodurch sie zur Befreierin ihres Volkes wird.
Bleibende Aspekte dieser Geschichte
Die Geschichte des jüdischen Volkes ist geprägt von Verfolgung bis hin zu Pogromen und dem Genozid in der Schreckenszeit des Nationalsozialismus. In dieser Geschichte gab es stets zugleich Männer und Frauen, die sich wie Mordechai nicht gebückt haben, sondern bereit zum Widerstand waren. Es gab auch jene Frauen, die als Tricksterinnen bezeichnet werden können, weil sie mit Klugheit und List ihr Volk vor Gewalttaten gerettet und in Befreiung geführt haben. Dafür stehen beispielsweise die Hebammen Schiphra und Pua am Beginn der Exoduserzählung, Mirjam, die dem Volk Israel beim Auszug aus Ägypten voranging, Tamar, die sich nicht mit einer Opferrolle abfand, Ruth, die Brücken zwischen den Ethnien baute – und eben auch Esther.
Das Buch ermutigt, wie Mordechai nicht den ungerechten Machthabern Gehorsam zu leisten, sondern Rückgrat zu zeigen, wenn andere gebeugt werden sollen. Mordechai ist wie ein Hans Scholl, Willi Graf oder Christoph Probst, die als Mitglieder der Weißen Rose vor 75 Jahren aufgestanden sind gegen das nationalsozialistische Regime. Esther ist wie Sophie Scholl. Sie waren bereit, in einer aussichtslosen Lage ihr Leben für andere hinzugeben
Kritische Distanz
Das Ende der Esther-Geschichte braucht zugleich eine kritische Distanzierung. Haman landet am Galgen, den er für Mordechai vorgesehen hatte. Tausende Perser werden hingerichtet. Rache ist aber nicht die Handschrift Gottes. Gott ist Barmherzigkeit. In diesem Sinne müssen wir uns im Kopf von Gewaltphantasien befreien. Es wäre schön, wenn Haman Gelegenheit zu Umkehr gegeben würde, und wir bräuchten jene Geschichten, die nicht mit Sieg-Niederlage, sondern mit Versöhnung enden.
Mit der Purimrassel den Antisemitismus vertreiben
Beim Purimfest werden heute kräftig Rasseln verwendet. Mit dem Lärm soll das Böse vertrieben werden. Während der Lesung aus dem Buch Esther darf man beim Wort „Haman“ seine Lärminstrumente einsetzen und den Baal Kore, das ist der Tora-Leser, übertönen. Neben dem wirkungsvollen Einsatz des Raschan – hebräisch für Rassel – darf getrampelt werden, zuweilen mit Schuhen, auf deren Sohle das Wort „Haman“ geschrieben ist, in manchen Gemeinden wird mit Topfdeckeln geschlagen, Steine werden aneinander geklopft, Ziegelsteine mit dem Wort „Haman“ werden solange aneinander gerieben, bis der Name verschwunden ist. In diesem Ritual geht es darum, dass die Taten des Feindes nicht weiterhin wirksam sein mögen. Daher können sich Jüdinnen und Juden freuen, dass sie gerettet wurden. Sie verkleiden sich wie zu einem fröhlichen Fest. Es wird gesungen und getanzt.
Heute mögen auch in unserem Land die Rasseln laut erklingen, damit Antisemitismus und Antijudaismus nie mehr sein mögen. Die jüdischen Lieder sollen erklingen und endlich die Grauslichkeiten aus deutschnationalen Liederbüchern verschwinden.
Klaus Heidegger, zum Purimfest, 28.2.2018