Heute fragen mich Schülerinnen und Schüler verwundert: Warum haben so viele Menschen dem Einmarsch der deutschen Truppen zugejubelt? Warum waren so viele über den Anschluss an Hitlerdeutschland begeistert? Warum streckten die Massen die Hand zum Hitlergruß? Warum haben Kirchenverantwortliche nicht offen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufgerufen, sondern ließen sich im Gegenteil instrumentalisieren oder sympathisierten mit den Schreckensherren? Was damals geschah, hat kein Parallelen. Kein Geschehen lässt sich mit dem Verbrechen am jüdischen Volk vergleichen. Wer die Gräuel der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft mit aktuellen Ereignissen abwägt, läuft in Gefahr, erstere zu verharmlosen.
Nicht im Sinne eines Vergleichs, sondern eines Wachrüttelns und einer Ermutigung zum Widerstand müssen wir aber heute doch die Frage stellen, die kommende Generationen mit Blick auf 2018 richten werden. Warum verdrängen wir heute so gekonnt das Massensterben von Menschen in den Hungergebieten dieser Welt? Warum haben wir uns an das Morden und Sterben in den Kriegsgebieten gewöhnt? Warum wird seit Jahrzenten das Schicksal des palästinensischen Volkes ignoriert? Warum geht das Sterben im Mittelmeer weiter und nimmt zugleich die Zahl der Flüchtlinge hierzulande ab? Warum steigt die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen unbegrenzt an und warum wird so wenig unternommen, um die Klimaerwärmung mit ihren katastrophalen Begleiterscheinungen zu stoppen? Warum schließlich wählen Menschen weiterhin Politikerinnen und Politiker, die ebendiese Entwicklungen fördern? Warum können Männer mit deutsch-nationalistisch-völkischem Gedankengut die Schaltstellen dieser Republik übernehmen? Warum wünscht sich laut Umfragen ein Viertel der Bevölkerung einen „starken Führer“, der sich nicht um das Parlament zu kümmern brauche?
Heute wird das Geschehen von damals analysiert, begründet oder auch gerechtfertigt. Die christlichen Kirchen in Österreich haben in einer klaren Stellungnahme die Mitschuld und das Versagen von damals eingestanden. Da gibt es nichts zu entschuldigen. Man wusste seit vielen Jahren von der antisemitischen Politik der Nazis und ihren menschenverachtenden Äußerungen gegenüber all den Menschen, die als „nicht-deutsch“ galten. Man wusste von Aufrüstung und den Einschüchterungen der politischen Gegner.
Im Informationszeitalter wissen wir heute so viel: Über die riesigen Flüchtlingslager in Afrika und Asien, über das Ausbreiten der Wüsten und das Ansteigen der Meeresspiegel im Gefolge des Klimawandels, über die Verschmutzung der Weltmeere durch den unermesslichen Ölhunger, über die Gefahren der Atomindustrie, über das Abholzen der Regenwälder für Palmölplantagen, über das Leid der Tiere in den Massentierhaltungen, über das fortschreitende Aussterben von Tierarten und die Vernichtung von Lebensgrundlagen.
Papst Franziskus spricht seit 5 Jahren diese Themen an. Er fordert Solidarität mit den Flüchtlingen ein, die schon zu Beginn seines Pontifikats im Zentrum seiner Sorge standen. Er schrieb die Öko-Enzyklika „Laudato Si“ und predigt eine radikale Umkehr zur Bewahrung der Schöpfung. Im Apostolischen Rundschreiben „Evangelii Gaudium“ formulierte der Papst unmissverständlich: „Diese Wirtschaft tötet“. Es reiche eben nicht, „auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes zu vertrauen“. Die katholische Kirche redet und handelt heute anders. Sie hat ihren widerständischen Platz gefunden. Doch wer hört noch auf sie? Und wer schafft es, nach diesen Vorgaben zu leben und sich nicht wieder schuldig zu machen?
Klaus Heidegger, 13. März 2018