Hawking und die Gottesfrage anhand eines Filmes verstehen
Ich bin Hawking sehr dankbar. Sein Wirken trägt wesentlich dazu bei, unser Denken und Philosophieren von einem entrückten, allmächtigen, weltfremden Schöpfergott, einem übermächtigen Wunderwuzzi-Gott, der über allen physikalischen Gesetzmäßigkeiten steht, zu befreien. Dadurch entdecken wir einen Glauben, der sich rational begründen lässt, der in sich logisch ist, der nicht im Widerspruch zu den Naturwissenschaften steht, sondern im Einklang mit deren Erkenntnissen ist. Gott wird wieder jene Dimension und Kraft, die begründbar, spürbar, erlebbar ist, die Sinn gibt und aufrichtet, die die Fragen nach dem Warum aller Dinge und Geschehnisse beantwortet.
Der britische Kinofilm „The Theory of Anything“ aus dem Jahr 2014 berührt immer wieder auch die religiösen Grundfragen, die im Leben und Denken von Stephen Hawking und seiner Frau Jane Hawking gestellt und beantwortet werden. Der deutsche Filmtitel des Biopics lautet „Die Entdeckung der Unendlichkeit“. Diese Titelwahl lässt schon erahnen, dass es in der Verfilmung von Stephen Hawkings Leben wesentlich um Schlüsselfragen der Theologie und Philosophie geht. In diesen Disziplinen sind „Unendlichkeit“ bzw. das auf die Zeit bezogene Synonym „Ewigkeit“ Attribute Gottes.
Tatsächlich sind auf sehr einfache und liebevolle Art im Filmskript in die Liebesgeschichte zwischen Stephen Hawking und seiner Frau Jane Wilde theologisch-philosophische Dialoge verwoben. Während der Physiker Hawking zunächst für den naturwissenschaftlichen Zugang zur Frage der Entstehung des Universums steht und sich seiner Geliebten als Atheist outet, verkörpert seine Frau den geisteswissenschaftlichen Zugang mit Kirchenbindung und Glaube an die Religion. „Ich bin eine CE“, stellt sich Jane am Anfang des Filmes vor. „CE“, so klärt sie auf, steht für Church of England. So kann auch ein erstes Rendezvous zwischen den frisch Verliebten nicht stattfinden, weil Jane sonntags die Kirche besucht. In der Filmsprache spielt der Kirchenraum ein Kontinuum, in den sich selbst der sich zunächst als Atheist deklarierte Physiker Hawking begibt.
Die Genderfrage – die Rollenzuschreibung für den Mann als erfolgreichen Wissenschaftler, der Erklärungen auf intellektueller Ebene sucht und findet, und die Frau als musisch begabte, pflegende und sich aufopfernde Mutter und Hausfrau – ist sicherlich nicht unproblematisch, wenn sie nicht bewusst reflektiert wird. Die Geschichte von männlicher Geistesgröße und weiblicher Aufopferung kann und darf nicht gesehen werden als Relegitimation jahrhundertealter weiblicher Diskriminierung.
In den 123-Filmminuten wird vor allem deutlich, wie die Gottesfrage gelöst wird. Hawking macht im Film zumindest zwei U-Turns: von einer pragmatisch gewählten Distanzierung von Gott, der nicht länger als Lückenbüßer für fehlende naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Erschaffung des Universums verwendet werden darf, bis zum Bekenntnis, dass in einer anderen Dimension es doch so etwas wie Göttliches geben könne.
Gott habe, so eine erste Antwort aus der Sicht der Physik, als letzter Grund für die Entstehung des Universums ausgedient. Gott tritt aus seiner Verursacherrolle für all das, was am Beginn der Zeiten entstanden ist. In diesem Sinne – und nur in diesem Sinne – bleibt Hawking Atheist. Für ihn ist die Welt Produkt physikalischer Gesetzmäßigkeiten. Es braucht keine göttlichen Kräfte, um zu erklären, wie alles entstanden ist. Hier geht Hawking über seinen großen Mentor Isaac Newton hinaus. Am Anfang – zeitlich gesehen was die Entstehung des Universums vor 13,8 Milliarden Jahren betrifft – standen also nicht ein Schöpfergott, sondern physikalische Grundgegebenheiten. Weil es physikalische Gesetzmäßigkeiten wie die Gravitationskraft gibt, kann sich die Welt selbst aus dem Nichts erschaffen.
Nach dieser Dekonstruktion fundamentalistisch-religiöser Sichtweisen bei Hawking – wie sie vor allem im Kreationismus und seinem Einfluss auf das kollektive Bewusstsein zu finden sind – zeigt uns Regisseur James Warsh in eindrucksvollen Bildern und pointierten Dialogen zwischen Stephen und Jane, wo und wie Gott im Zeit-Raum des Universums zu finden ist. Gott steht nicht mehr als Schöpfer, der den Big Bang ausgelöst hat, sondern als jene Kraft und Energie, die in Zeit und Raum hineinwirkt. Schöpfung ist nicht mehr AM Anfang, im Sinne einer Zeitstrecke, sondern stets IM Anfang, also im Sinne einer creatio continua, einer fortdauernden Neuschöpfung. Schöpfung findet je neu im mathematischen Unendlichkeitszeichen statt, das letztlich keinen Anfang und kein Ende kennt, und doch kann jeder Punkt in diesem Zeichen Anfang und Ende sein.
Wunderschön versinnbildlicht wird dies im Film, als Stephen und Jane über den ersten Vers des biblischen Schöpfungsberichtes reden „im Anfang erschuf Gott …“. In ihrer beginnenden Liebesbeziehung liegt jene Neuschöpfung und letztlich die zeitlich-räumliche – ständig sich wiederholende – göttliche Schöpferkraft. So wird auch die Qualität biblischer Schöpfungsberichte nicht fundamentalistisch missverstanden, sondern in ihrer bleibenden Wahrheit begriffen.
Die Bibel kann nicht wie ein Physikbuch gelesen werden, obwohl in ihr viel Physik enthalten ist und die Aussagen nicht im Widerspruch zur Physik stehen. Die Bibel will ja nicht erklären, woher die Sonne ihre Energie bezieht, sondern wie ist das Verhältnis der Menschen zur Umwelt, zur Mitwelt und zu Gott. So zeigen uns die Schöpfungsberichte nicht, wie die Welt entstanden ist, sondern warum es sich lohnt, die göttlichen Werke zu achten und zu bewahren, ohne ihnen aber Verehrung entgegen zu bringen, da sie doch nur Geschaffenes sind.
Im Anfang der Zeit kann daher übersetzt werden als „Beginn“ neuer Wirklichkeiten, in denen Gott auf- und durchscheint. Als Menschen müssen wir es ständig neu praktizieren: So kann jeder Tag und jede Begegnung, kann jeder Anfang einer neuen Arbeit, einer neuen Ausbildung oder einer neuen Freundschaft Schöpfungszeit sein.
Auf einzigartig dichterische Weise wird dieses Verständnis von Zeit und Schöpfung im Prolog des Johannesevangeliums ausgedrückt, der mit den Worten beginnt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott …“. (Joh 1,1: en Archê ên ho Logos, in Principio erat Verbum) Hier finden wir den bewussten Bezug zum Beginn der Schöpfungsgeschichte und damit auch zum Beginn der Bibel in Genesis 1,1. Das griechische Wort „Logos“ ist höchst bedeutungsschwanger. Mit Logos wird die Vernunft verstanden. Im Anfang also war bereits das kritische Nachdenken, die Reflexion. Wir können daher auch sagen: Im Anfang war die Logik und weiter gedanklich fortsetzen. Göttliches Geschehen entzieht sich nicht der Logik, im Gegenteil: Göttliches Geschehen hat mit Logik und Ratio zu tun. Eine zweite Bedeutung für Logos lässt sich mit dem Begriff „Sinn“ wiedergeben. Dieser Bedeutungsgehalt ist freilich stets rückgebunden an die Ratio, die Vernunft, die Logik. Was ist nicht Sinn macht, was sinnlos ist, entzieht sich daher der Vernunft, ist unvernünftig.
In der Verbindung von Stephen und Jane Hawking, zumindest in der Art und Weise, wie dies auf sentimentale und sicherlich mit vielen Klischees gefüllt im Film geschieht, wird eine Dualität aufgehoben, die Naturwissenschaften (science) und Geisteswissenschaften (arts) voneinander trennt. Empirische Erfahrungen von Göttlichem werden Realität. In diesem Sinn ist „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ ein zutiefst inkarnatorischer Film, der mit göttlicher Menschwerdung zu tun hat. Die Größe Gottes besteht nicht in seiner allmächtigen Art, am Anfang der Zeiten alles geschaffen zu haben. Die Größe Gottes zeigt sich darin, dass sie immer wieder neu und oftmals auf ganz überraschende Weise ihre Wirkkraft zeigt. Inkarnation – Gott wird Mensch, das ist das Wunder von Weihnachten, in Jesus von Nazareth spürbar geworden, doch nicht nur im Leben dieses Menschen. In dieser Dimension des Denkens wird „überprüfbar“, ob und wie es Gott gibt, und damit kann Gott vor dem naturwissenschaftlichen Axiom standhalten, dass nur jenes Wissen gültig ist, das auch überprüft, beobachtet, gemessen bzw. quantifiziert werden kann. Vernunft, die schon der Apostel Paulus in seinen Briefen mit Blick auf die Begründung des Glaubens an Jesus Christus einforderte, steht nicht im Widerspruch zum Glauben. Es heißt nun: Ich glaube, weil ich erkenne, weil ich erfahre, weil Erfahrungen verifizierbar sind. Und nochmals soll aber festgehalten werden: Gott wird nicht dort gesucht, wo das Universum begann, weil es auch logisch nicht sein kann, in der Unendlichkeit und Ewigkeit einen Anfang festzumachen. Gott freilich wird damit nur in einem Hegelschen Sinne aufgehoben. Gott ist aufgehoben in die menschlich-historische Erfahrbarkeit, zugleich aber wird Gott immer das je Größere und Unfassbare bleiben.
Wenn Hawking allerdings glaubt, damit würde sich das Theorem von der Personalität Gottes nicht mehr rechtfertigen lassen, so stimmt dies nicht überein mit jener göttlichen Dimensionalität, die im Film veranschaulicht wird. Personalität wird philosophisch-theologisch definiert als Einheit von Körper-Seele-Geist. Gott ist nicht nur Geist, ist nicht nur Seele, ist nicht nur Körper. Gott wird personal erfahrbar als Körper-Seele-Geist. Menschliche Zuwendung, die sich als roter göttlicher Faden durch den Film zieht, braucht stets alle drei personalen „Bestandteile“, die stets in einer Interaktion und Interdependenz zueinander stehen.
Hawking sucht unerbittlich nach der Formel, mit der alle Rätsel des Universums gelöst werden können, nach einer Gleichung, der „Theory of Everything“ – so der englische Filmtitel. Im Laufe des Filmes wird deutlich, dass die Gleichung auf einer anderen Ebene gefunden wird. Die biblisch-religiöse Gleichung für alles lautet letztlich: Gott ist Liebe. „Die Liebe“, heißt es im 1. Korintherbrief in der Bibel, „erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand.“ Jane hat diese Gleichung gefunden – gerade auch im entscheidenden Moment, als die Frage im Raum stand, nach einem Luftröhrenschnitt ihren Mann vom Leiden zu erlösen, wie es der Arzt ihr nahelegte.
In dieser Szene deutet der Film jenen Umgang mit schwerer Krankheit an, der dem beständigen Ruf nach einer Lockerung der Regelungen für „Sterbehilfe“ diametral entgegensteht. In dieser Frage bräuchte es Tausende von Janes, die nicht sofort nach Beendigung des Lebens bei schwerer unheilbarer Krankheit rufen, sondern mit ihrer Geduld und Liebe unheilbar Kranke begleiten. Im Film wird ein Bild von Stephen Hawking „gemalt“, das dem vorschnellen Ruf nach dem, was in der veröffentlichten Meinung unter dem Thema „Sterbehilfe“ diskutiert wird, widerspricht. Genau genommen würde die im Film dargestellte Szene als passive Sterbehilfe auch in Österreich gesetzlich möglich sein.
Eine Szene gegen Ende des Filmes soll hier noch besondere Erwähnung finden. Stephen Hawking spricht mittels Sprachcomputer vor einem vollen Auditorium. Souverän und auf witzige Art beantwortet er die Fragen aus dem Publikum. Da stellt ein Herr die Frage nach Gott. Stephen Hawking überlegt diesmal sehr lange. In der ersten Reihe vor sich im Publikum sieht er, wie einer jungen Frau eine rote Füllfeder zu Boden fällt. In seiner Phantasie steht er nun vom Rollstuhl auf, geht die Treppen des Podiums hinunter, bückt sich vor der Frau und gibt ihr die Füllfeder. Erst nach dieser Phantasiereise beginnt Hawking dann auf die Frage nach Gott einzusteigen. In seiner Phantasie wurde sie beantwortet. Das ist Filmkunst. Bilder, die mehr sagen als viele Worte.
Klaus Heidegger
www.klaus-heidegger.at, am Todes- und Auferstehungstag von Stephen Hawking, 14.3.2018