Mirjam, dein jüdischer Name, er erinnert an das „Widerspenstige“ und „Ungezähmte“ und an jene Befreiungsgeschichte mit Mose und seiner Schwester, ich bete zu dir. Maryam, wie du im Koran genannt wirst, ich verehre dich. Maria, dein griechischer und zugleich römischer Name und damit ein Name für die Weite des damaligen Reiches wie für die Weite der heutigen Welt, mit all den Namen, mit denen du angebetet, angerufen und verehrt wirst, du Mutter und Gefährtin des Jesus von Nazareth, ich möchte, dass du meine Compañera bist, meine Begleiterin, mit dir durch diese Welt gehen, deine Kraft im Leben und in dieser Welt spüren.
Du öffnest mir den Blick in die Himmel, ohne diese Welt zu vergessen. Das Aufgenommen-in-den-Himmel lenkt mich nicht ab vom Irdischen, sondern lässt die Himmel im Hier und Heute erkennen, lässt mich danach sehnen, dass ein Stück des Himmels auch lebendig wird, wo ich lebe. Mit Haut und Haaren – so heißt es im Dogma – bist du aufgenommen im Himmel, mit deiner ganzen Leiblichkeit. Das passt zu dir und meiner Sehnsucht: Kein manichäisches Trennen von Geist und Leib, kein gnostisches Verachten all dessen, was mit Körper verbunden ist. Das taugt als politisches Programm gegen all die Vertröstungen und Weltflüchte.
Du bist die Mutter Jesu, Mutter des Heilands, und doch sehe ich dich für mich bewusst nicht in der Mütterlichkeit, weil ich nicht dein Kind bin, weil ich auf Augenhöhe mit dir sein möchte, dich von den überhöhten Altären herunter in diese Welt holen möchte, dich befreien vom Gold und Silber und den schweren Gewändern, von Sternenkränzen und Kronen und vor allem von der Vereinnahmung durch kriegerische Machthaber, von Männern, die bis zum heutigen Tage in Soldatenuniformen und mit Waffen in den Händen ihre Gelöbnisse vor dir sprechen.
Ich sehe dich als jüdische Frau, gefüllt mit Träumen nach einem erfüllten Leben und jenem Traum nach dem messianischen Friedensreich, der von Prophetinnen und Propheten formuliert worden ist. Dazu hast du dein „es möge geschehen“ gesprochen. Wie jede fromme Jüdin hast du an den Schalom geglaubt. Je mehr Unfrieden und Ungerechtigkeit zu deiner Zeit erfahrbar waren, desto stärker wurde zugleich dieser Traum umgemünzt in politischen Widerstandsgeist. Diesen Traum hast du in deinem Sohn groß werden lassen. Jehoschua hast du ihn genannt, „Gott rettet“.
Als Mädchen schon wirst du damals mit einem Mann verlobt worden sein. So sahen es Bräuche, Gesetze und Kultur vor. Du hattest Glück mit deinem Verlobten. Josef ist zu dir gestanden, als du, die Erniedrigte, viel zu jung schwanger geworden bist. Der Bauhandwerker aus Nazaret hat dich nicht verstoßen, weil er verliebt war in dich, weil er dich liebte, weil er wie du an die Botschaften der Engel glaubte. Solidarität als Wurzel der Befreiung. Auch in Elisabeth, die dir Deckung gab, hattest du frauensolidarische Stütze. So konnte dann in deinem Leib jenes Kind groß werden, das als Retter der Welt, als Heiland, als Menschensohn, als Messias, ja sogar als Sohn Gottes gilt.
Du warst in den Augen der Mächtigen, der römischen Besatzer und ihrer Kollaborateure eine Rebellin. „Die Mächtigen stürzt er vom Thron und erhöht die Erniedrigten … die Verarmten wird er beschenken und die Reichen werden leer ausgehen… “ So hast du gesungen. Es war das revolutionäre Wiegenlied für deinen Sohn.
Die Mächtigen haben im Laufe der Jahrhunderte etwas anderes aus dir gemacht. Du wurdest zur Magna Mater Austriae, und in Mariazell verdichtet sich die ganze Ambivalenz deiner Verehrung. Ich sehe dich als Marizeller Madonna in der über und über mit Silberschmuck gefüllten Kapelle. Schade, dass jener überlange Zeigefinger deiner linken Hand durch das Prunkgewand verdeckt ist. Mit ihm weist du auf Jesus hin, der einen Apfel in der Hand hält. Mit Jesus kann die Erbsünde überwunden werden. Jesus, der neue Adam. Erbsünde bedeutet damals wie heute: Die Versuchung, Gewalt mit Gewalt bekämpfen zu wollen, Feindschaft mit Feindschaft zu beantworten, auf ein böses Wort mit einem bösen Wort zu reagieren. Dein ausgestreckter Zeigefinger in der gotischen Figur will uns sagen: Lebt und handelt so, wie es Jesus gelebt und gelehrt hat. Dazu zählt Gewaltverzicht und der täglich neue Auftrag, sich zu verzeihen und zu versöhnen mit all dem Unversöhnten. Es gilt auch für mein Leben.
Wie konträr ist allerdings dann das, was sie aus dir gemacht haben. Man behauptete, du hättest Könige zu grausamen Schlachten ermutigt. So wurdest du instrumentalisiert als Aufruf zum kriegerischen Gemetzel. In der Gegenreformation wurdest du als Maria von Mariazell zur „Generalissima“ und die Steiermark, die damals zu Zweidrittel evangelisch war, wurde zwangskatholisiert. Unter deinem Schutz? Du wurdest mit dem Epitheton „Siegerin in allen Schlachten“ versehen. Du Maryam, die von den Muslimen verehrte Mutter des Propheten und Gesandten Isa, wurdest zur Galionsfigur im Kampf gegen Muslime.
Dir zu Ehren wird in meinem Land der Hohe Frauentag festlich begangen. Verbunden mit ihm ist aber auch die Erinnerung an 1809 und das grausame Schlachten, an Elend und Armut, das darauf folgte. Das war bestimmt nicht in deinem Sinne, die die Feinde liebte, um sie zu entfeinden.
Du wurdest mit dem Titel „Jungfrau“ versehen und so in der Phantasie vieler Menschen bis zum heutigen Tag von erotischer Leiblichkeit getrennt – dabei hattest du doch mit Josef noch einige Kinder. Mit dir verbunden wurde das Wort „unbefleckte Empfängnis“ und wieder wird fälschlich assoziiert, dass all dies, was mit Sexualität und der biologischen Wirklichkeit zu tun hat, negativ sei. Weiß-blass-bläulich-entrückt und mit unterwürfigem Hundeblick – so sehe ich dich nicht. Als mit dem Leib in den Himmel Aufgenommene bist du die befreiungstheologische Kraftquelle gegen jegliche Repression.
Maryam, Mirjam, Maria – die Herrschaftsgeschichte hat dich übel missbraucht. Heute sage ich: Du bist, wie es Martin Luther formulierte, die „zarte Mutter Christi“ und Botin jener Zärtlichkeit Gottes, von der Papst Franziskus in seinen Worten immer wieder spricht. Du trittst aus den Bildern und von den Altären und bist mir Schwester im Glauben mit deinem subversiven Gesang, wie es einst Kurt Marti formulierte.
Klaus Heidegger, 15. 8. 2018