Outsider wird zu Insider oder: Die Befreiungsgeschichte des blinden Bartimäus

Interpretationsweisen hinterfragen

An diesem letzten Sonntag im Oktober wird in der katholischen Liturgie die Geschichte von der Heilung des blinden Bartimäus aus dem Markusevangelium gelesen. (Mk 10,46-52) Selbst nach 250 Jahren Aufklärung und nach all den Studien über historisch-kritische oder formgeschichtliche Bibelexegese geschieht in der Verkündigung wie in den Köpfen der Menschen immer noch eine Interpretation, die in etwa so geht: Jesus als Sohn Gottes vermag überirdische Wunder zu wirken. Selbst eine medizinisch diagnostizierte Blindheit sei letztlich für den Wunderheiler Jesus kein Problem. Vertrauen wir uns also Jesus an, dann könnten Wunder geschehen. Bei dieser Sichtweise sehe ich die kritischen Jugendlichen vor mir in der Klasse sitzen, die nicht mehr glauben können und wollen, weil ihnen solches Verständnis wie ein Hokuspokus vorkommt. Nur Verrückte könnten so etwas glauben. Wundergeschichten werden dann für die Schülerinnen und Schüler zum Beweis, dass die ganze Bibel ein Fake sei. Wenn wir uns jedoch auf den Gehalt dieser Wundergeschichte einlassen, auf die sorgfältige Komposition der einzelnen Worte sowie den sozialhistorischen Kontext, dann wird so WUNDERSCHÖN die bleibende revolutionäre und befreiende Botschaft deutlich.

„Wegziehen aus der Stadt Jericho“

Es heißt zunächst einfach wie lapidar: Jesus „zog weg“. Jesus verlässt eine Stadt, die auch einen Namen hat. Jesus zieht nicht allein aus, macht sich nicht mehr allein auf den Weg. Da sind ausdrücklich seine Jüngerinnen und Jünger dabei und selbst von einer „großen Menge Volk“ ist die Rede. Ein Auszug wie damals mit Mose aus dem Sklavenhaus Ägyptens. Exodus. Es soll nicht mehr so weiter gehen wie bis jetzt. „Eine andere Welt ist möglich“. Mit diesem Satz brachte es die Antiglobalisierungsbewegung schon vor einigen Jahren auf den Punkt. Schon bald dreißig Jahre ist es her, seit die Mauer quer durch Europa fiel, weil das Volk hinauszog aus Jahrzehnten der Unterdrückung. Und auch heute täte ein Hinausziehen so not. Weg von der Zerstörung dieser Welt durch den Massenkonsum. Die rechtspopulistischen Mauerbauer haben zwar die Mauern um Jericho hochgezogen, doch es gibt sie auch heute: Die Trompeten, die diese zum Einstürzen bringen werden, damit der Auszug im Heute gelingen kann. In den Alltäglichkeiten und Abhängigkeiten des Lebens können wir manchmal dieses Gefühl verspüren, ausziehen zu wollen von dem, was einengt, einschränkt, behindert und nicht leben lässt. Politisch, kulturell oder individuell: Unsere Städte heißen heute und jetzt nicht Jericho, aber lassen sich benennen. Wer allerdings wegzieht, braucht Mut und Weggefährtinnen und Weggefährten. Außerhalb der Städte könnte es gefährlich sein. Da könnten Wegelagerer oder wilde Tiere warten. Es braucht Mut wegzuziehen.

„Bartimäus am Weg“

Die sozialhistorische Bibelexegese kann die sozialökonomische Bedeutsamkeit dieser Stelle eindeutig identifizieren. Das religiös-kulturelle Reinheitssystem der damaligen Zeit definierte Blindheit wie jede Form von körperlichen Beeinträchtigungen, Krankheit wie soziales Missgeschick als Strafe Gottes. Wer blind war, galt als „unrein“. Wer als unrein galt, wurde aus der Mitte der Städte und Dörfer verbannt. Ihr Ort war „außerhalb“. Um die vermeintlich eigene Reinheit zu bewahren, hielt man einen Abstand von ihnen. Das wird auch in der Reaktion vieler deutlich, die den Bartimäus „anherrschten“, um ihn zum Schweigen zu bringen. Auf der Grundlage der prophetischen Tradition des Volkes Israel und der Erfahrung des barmherzigen Jahwe-Gottes buchstabierte die jüdische Erneuerungsbewegung unter Jesus von Nazareth die Lage völlig anders. Sie wendet sich dem zu, was ausgegrenzt wird oder sich selbst ausgrenzt aus Verzweiflung oder Verbitterung. Es fällt sofort auf, dass der „Blinde“ einen Namen hat. Bartimäus. Auch sein Vater wird namentlich genannt. Und auch seine soziale Stellung wird bezeichnet. Er ist ein Bettler. Ausgrenzung hat einen Namen. Bartimäus wird benannt.

Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene können wir die Ausgrenzungsmuster heute klar benennen. Es ist ein Wirtschafts- und Sozialsystem, das – so die jüngste Statistik – allein in Tirol fast 120.000 Menschen an den Rand der Armutsgefährdung geführt hat. Es ist eine Politik, die Asylsuchende mit Mauerstrategien vor den Toren Europas abhalten möchte und viele von ihnen im Mittelmeer ertrinken lässt. Es ist ein verschärftes Asylsystem in unserem Land, das selbst in „Härtefällen“ inhumane Entscheidungen zulässt. Bartimäus wird weiterhin ausgegrenzt und abgeschoben.

Im Schulalltag erlebe ich, wie schnell solche Ausgrenzungsmuster geschehen. Ich sehe die Bettler und Bettlerinnen in der Klasse sitzen. Ein Jugendlicher, der nicht zu einer Party eingeladen wird, fühlt sich wie ein „Bettler“. Mädchen oder Burschen, denen es nicht gelingen kann, Freundschaften zu schließen, weil sie vielleicht zu schüchtern sind oder bestimmten Normen nicht entsprechen. Allerorten gibt es ein Betteln nach Zuwendung, Zärtlichkeit und Annahme, das unbeantwortet bleibt. Bleibt solches „Betteln“ zulange unbeantwortet, geschieht der Auszug in welcher Form auch immer.

„Bartimäus schreit und vertraut“

Wer setzt den ersten Schritt zur befreienden Heilung? Es ist Bartimäus selbst, der nicht länger in seiner Bettlerrolle, in seiner sozialen Zuweisung und in seinem kulturellen Ausgegrenztsein bleiben möchte. Es heißt im Evangelium eindrucksvoll: Er schreit laut. Es ist ihm egal, dass sich viele nun über ihn empören. Die Sache mit Jesus ermuntert ihn, sein Schicksal nicht länger zu ertragen. Die Heilung funktioniert nur, weil es Bartimäus selbst möchte und den Mut dazu hat. Es heißt sogar, dass er den Mantel wegwirft. Der Mantel wiederum bedeutete damals Schutz. Der Mantel diente dem Bettler als Decke in der Nacht und als Schutz vor der Kälte. Jesus selbst hält sich nicht für einen Wunderwuzzi. Im Gegenteil. Es selbst sagt: „Dein Vertrauen hat dich gesund gemacht.“

Auf politischer Ebene höre ich heute den Schrei bei den Donnerstagsdemonstrationen oder etwa in der Stellungnahme der Katholischen Aktion vom letzten Wochenende, die sich für die Flüchtlinge in unserem Land stark machte. Ich denke an das „Wunder von Mals“ – an eine ganze Gemeinde, denen es gelingt, sich dem Glyphosat-Wahn zu entziehen. Zum Glück könnte die Liste von politischen Bartimäus-Befreiungsgeschichten lange fortgeführt werden. Im Alltag wiederum begegnen mir Menschen, die selbst einen stillen Hilfeschrei wahrnehmen, sich zuwenden, die aufrichten und die Augenbinden lösen, um auch in mir Vertrauen zu wecken und Licht ins Leben zu bringen.

Klaus Heidegger, 28.10.2018

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