Ich finde reformatorische Spuren in meiner nächsten Heimat. Von meinem Ursprungs-Heimatort Prutz sind es keine 20 Kilometer bis zur Grenze in die Schweiz. In den kleinen Ortschaften des Unterengadins haben sich die romanischen und gotischen Kirchen und Kirchlein in ihrer Ursprünglichkeit erhalten. Sie atmen noch Jahrhunderte später den Aufbruch, den Gläubige bereits zu Luthers und Calvins Zeiten unter Lebensgefahr wagten. Vor einigen Tagen, am Nationalfeiertag, konnte ich es wieder erleben. Die Kirchen und Kapellen sind nicht, wie in den Orten Südtirols auf der anderen Seite, vielfach gesperrt. Man könnte in diesen Dörfern hoch über dem Inntal auch keine Statuen klauen, weil es keine gibt. Zugleich sind diese alten Kirchen mit Liebe und kunstbesonnen renoviert. Das Einmaleins des evangelischen Aufbruchs wird sichtbar. Beschützt von den Untengadiner Dolomiten im Süden und den sanften Gebirgsketten im Norden blieb diese Gegend wacker verschont von der Gegenreformation. Im Dreißigjährigen Krieg wüteten in diesen Ortschaften österreichische Truppen und versuchten auch hier mit äußerster Gewalt eine Rekatholisierung zu erzwingen. Selbst die evangelischen Toten sollten aus den Friedhöfen verschwinden. Mit dem Westfälischen Frieden allerdings begann im Unterengadin Glaubens- und Konfessionsfreiheit. Tschlin, San Niclo, Ramosch, Vna, Scuol, Zernez wurden wieder zu Orten, wo protestantischer Glaube sich verwirklichen konnte. Die Kirchen in diesen Ortschaften sind Räume, in denen sich eine Gemeinschaft versammelt, um miteinander das Wort Gottes zu hören – daher die Kanzel als zentraler Platz. Es gibt keine Kniebänke, weil das Volk hören soll, was gesagt wird, kein Tabernakel, vor dem gekniet wird, schon gar nicht soll man sich vor einem „geweihten“ Mann in die Knie werfen. Hier hörten von Beginn an die Gläubigen das Wort Gottes in ihrer Sprache, einem ganz eigenen rätoromanischen Dialekt, der heute noch gesprochen wird. Vor Gott sind alle gleich und jeder Klerikalismus würde dem widersprechen. Wie ein runder Tisch daheim so der Abendmahlstisch, um den sich die Gemeinde versammelt. Es sind in diesen Kirchen höchstens noch ein paar alte Fresken vorhanden, die die Jahrhunderte überlebt haben, ansonsten gibt es keine Bilder und keine Statuen, die ablenken könnten vom Hören des Wortes und vom gemeinsamem Beten und Singen. Die Schlichtheit schafft Konzentration auf das Sola scriptura, verleitet zum Sola gratia und schafft Raum für ein Sola fide. Auch für meine Kirche, die römisch-katholische, lässt sich jedenfalls 500 Jahre später viel von diesem Aufbruch lernen.
Klaus Heidegger, Reformationstag 2018