Eine Kirche der Armen und an der Seite der Armen
Von der Franziskanerin Sr. Sigmunda May stammt ein sehr berührender Holzschnitt. Es zeigt den Mantelteiler Martin, der nicht – wie üblich dargestellt – seinen Soldatenmantel mit einem Schwert durchschneidet, um ihn mit einem Bettler zu teilen, sondern mit Mitra und bischöflichem Umhang, den er ganz liebevoll und schützend um einen nackten Bettler legt. Dieser schmiegt sich in die angebotene Geborgenheit. Um ihm ganz Schutz zu geben, stellt sich Martin noch etwas auf die Zehenspitzen und legt einen Arm auf die Schultern des Hilfsbedürftigen. Am auffälligsten sind allerdings die Augen. Bischof Martin hat einen Blick für das, was der bittende Mensch von ihm braucht, die Augen des Bettlers wiederum sind voll Zuversicht und Hoffnung, dass ihm Recht geschehen wird.
Martin ist in dieser Darstellung der Prototyp für eine christliche Existenz und Verkörperung einer jesuanischen Lebensweise, in der das allerwichtigste sichtbar wird: Die Liebe zu jenen Menschen, die Hilfe und Schutz brauchen.
Dankbar bin ich für eine Kirche, die so unmissverständlich diese Option selbst eingeschlagen hat. Dies wird heute sichtbar überall dort, wo kirchliche Vertreter Flüchtlinge und Asylsuchende gegenüber einer inhumanen Asylpraxis in Schutz nehmen. Der neugewählte Präsident der Katholischen Aktion Österreichs, Leopold Summerauer, genauso wie Kardinal Schönborn und mit ihm die bischöflichen Kollegen in den Diözesen, sie reden wie jener Bischof von Tours, der vor 1700 Jahren starb. Dort, wo die Notstandshilfe gestrichen wird und die Mindestsicherung radikal beschnitten werden soll – es sind die Vorgaben der österreichischen Bundesregierung – dort ist nicht das Denken des Hl. Martin am Werk.
Martin und die Friedensdividende
Es fälllt in meinem Lebensumfeld nicht schwer, sich die Gestalt des Martin immer wieder als Ansporn und Inspiration in Erinnerung zu rufen. Auf einer Mountainbikerunde entdeckte ich gerade, dass eine neue Bauernhof-Kapelle im Farbental ihm geweiht ist. In Gnadenwald lädt die Kirche St. Martin am Vorabend zum Martinsfest zum Verweilen und Nachdenken ein. Die Fresken erzählen von der Geschichte des Heiligen und eine Statue zeigt ihn als Bischof, die andere Statue stellt ihn traditionell als reitenden römischen Soldaten dar, der sein Schwert benützt, um den Soldatenmantel mit einem Bettler zu teilen.
Die Option für die Armen ist integral verbunden mit einem radikalen Schnitt. Der Arme löst bei Martin eine Lebenswende aus. Der erfolgreiche Soldat entscheidet sich für Jesus Christus und den gewaltfreien Weg aufgrund seiner Begegnung mit den Armen. Sinnfällig findet durch das Mantelteilen eine Friedensdividende statt. Martins Schwert dient nicht mehr zum Kämpfen, sondern zum Teilen von Besitz. Seine Rüstung – der Mantel – wird aufgelöst, um die Armen damit zu kleiden. Er steigt vom Ross, um auf Augenhöhe mit dem Bettler zu sein. Er weist Obdachlose nicht ins Nichts, sondern schützt sie mit dem Mantel vor der Kälte der Obdachlosigkeit. Heute würden wir sagen: Martin steht für ein „Christlich geht anders“. Mantelteilen heute bedeutet, nicht die Notstandshilfe zu streichen und selbst die Mindestsicherung noch zu beschneiden, sondern Reichtum und Lebenschancen gerecht zu verteilen.
Wenn der Generalsekretär der FPÖ, Harald Vilimsky, bei einem Martini-Ganslessen mit seinen Parteigetreuen und Gästen der AfD, populistisch meinte, der Hl. Martin sei wenigstens kein „Linker“ gewesen, weil er seinen eigenen Mantel und keinen fremden geteilt hätte, so täuscht er sich. Dieser Mantel war Eigentum Roms. Das Mantelteilen des Martin war somit ein Akt des zivilen Ungehorsams.
Wer den Mantel teilt, macht sich freilich verletzlich. Auch Martin, so die Legenden, musste zunächst mit dem Spott der Umstehenden rechnen, weil er mit einem halben Mantel sehr hässlich ausgesehen habe.
Der Heilige aus dem 4. Jahrhundert entspricht dem Pazifismus eines Martin Luther King. Eine Darstellungsform des Hl. Martin könnte auch täuschen. Landauf landab wird Martinus als römischer Soldat hoch zu Ross dargestellt. Martin – der dem Kriegsgott Mars „Geweihte“. Diese Wahrnehmung passt besser zu einer militärischen Kultur als ein Christ, der sich aufgrund seines Glaubens entscheidet, keine Waffe mehr zu tragen. Es stimmt zwar, dass Martin zunächst als Berufssoldat gedient hatte. Mehr und mehr aber dürfte Martin diesen Dienst nicht mehr als vereinbar mit seinem Christsein empfunden haben, obwohl damals die Kaiser Soldatendienst und Christsein durchaus nicht mehr wie in der frühen Kirche als Gegensatz gesehen hatten. Das pazifistische Prinzip „Ich kann nicht Christ und Soldat zugleich sein“ („Non possum militare, Christianus sum“), das vor der Konstantinischen Wende Gültigkeit hatte und die Christenverfolgung durch die römischen Kaiser entfachte, war längst aufgegeben worden. Sulpicius Severus berichtet in seiner Vita Sancti Martini, verfasst um 395, von dessen Absage an den Kaiser. Martin soll ihm gesagt haben: „Bis heute habe ich dir gedient, Herr, jetzt will ich meinem Gott dienen und den Schwachen. Ich will nicht mehr länger kämpfen und töten. Hiermit gebe ich dir mein Schwert zurück. Wenn du meinst, ich sei ein Feigling, so will ich morgen ohne Waffen auf den Feind zugehen.“ Wenn später aus dem Martin der Patron der Soldaten und Waffenschmiede gemacht wurde, so stimmt dies mit dem Leben des Bischofs von Tours nicht überein.
Martin kein narzisstischer Selbstdarsteller
Weil Martin vorlebte, was Sache ist, weil er vom „hohen Ross“ gestiegen ist und Empathie und Solidarität zeigte, wollte ihn die vox populi, die Stimme des Volkes, zum Bischof machen. Bekannt ist seine anfängliche Weigerung, dem Ruf auf das Bischofsamt zu folgen. Ruhm, Macht und Karriere waren nicht sein Lebensziel und waren nicht der Grund, warum er sich für Jesus entschied. Weil ihm das episkopale Amt zu abgehoben vorkam, versteckte sich der Heilige laut Legende in einem Gänsestall. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass die Gänse ihn verraten würden.
Es gibt Bischöfe im Stile des heiligen Martin, der jeglichen Prunk vermied und in seinem Lebensstil auf Insignien der Macht verzichtete. Der Bischof von Rom, Papst Franziskus, der auf einer FPÖ-nahen Website als „Papa horribilis“ gebrandmarkt wird, setzte von Beginn an viele Zeichen in diese Richtung. Ein Bischof passt auf keinen Thron, darf sich nicht beweihräuchern lassen und vor einem Bischof soll sich kein Mensch niederwerfen: Das war die Botschaft des Martin zu einer Zeit, als sich die Kirche mehr und mehr dem römischen Herrschaftsgehabe anzupassen begann.
Der Himmel geht auf
Ich könnte ein Kunstwerk von Claudia Treutlein benützen, um das Wunder des Mantelteilens abschließend zu illustrieren. Dort, wo geteilt wird, ist ein goldenes Band. Die Künstlerin dazu: „An der Reißwunde des Mantels geht der Himmel auf.“
Klaus Heidegger, Martinsfest 2018