Dankbar feiere ich in einer Republik zu leben,
in der laut Verfassung das Recht vom Volk ausgeht,
in der demokratische Spielregeln die Grundlage sind,
in der nicht Adelige über die Geschicke des Landes bestimmen,
in der demokratische Theorie zur Praxis des Alltags werden könnte.
Dankbar bin ich,
dass Frauen und Männer im Wahlrecht gleichgesetzt sind,
dass theoretische Gleichheit zur praktischen Gleichheit führen könnte:
dies könnte Ansporn dafür sein,
dass Gendergerechtigkeit in vielen Bereichen des Alltags zur Normalität werde.
Dankbar feiere ich in einer bunten Nation zu leben,
die so viel mehr ist als burschenhafte Deutschtümelei,
die Deutsche und Slowenen,
Kroaten und Roma und Sinti
und heute so viele Nationalitäten
in einer Heimat zusammenführt.
Dankbar feiere ich eine Nation,
die bereit war zu trans- und internationalen Kooperationen,
deren Hauptstadt zur UN-Stadt wurde,
eine Nation,
in der die große Welt ihre Probe halten könnte.
Dankbar feiere ich,
dass nach all den Schreckensjahren der Fremdherrschaft und Kriege
Menschenrechte als Baustein einer neuen Republik werden sollten.
Dankbar feiere ich die Trennung von Kirche und Staat,
die Freiheit für die Religionen bedeutet
und die Freiheit des Staates von religiöser Bevormundung,
die Raum schafft für ein freies Zusammenspiel
von Religionsgemeinschaften, Kirchen und Staat.
Dankbar feiere ich,
dass niemand in unserem Land in den Krieg ziehen muss,
dass heute den Deserteuren Gedenkorte errichtet
und Krieger nicht mehr als Helden verehrt werden.
Doch bei so mancher Geburtstagsrede,
bei den schönen Sonntagsreden,
schnürt es mich im Hals,
und ich möchte manche der türkis-blauen Festredner fragen:
Warum lobt ihr die bunte Nation
und lasst nicht los von deutschnationalem Gedankengut,
warum nur sinniert ihr über Deutschpflicht auf dem Schulhof?
Warum preist ihr die Buntheit dieser Nation in den Himmel
und missachtet die Rechte jener,
die in ihrer Not zu uns gekommen sind?
Warum redet ihr von Religionsfreiheit
und diffamiert eine Religionsgemeinschaft
und stilisiert Kopftuch oder Minarett zum Problem?
Warum wollt ihr Meinungsfreiheit beschränken,
die Grundlage ist für jede Demokratie,
warum soll der öffentliche Rundfunksender eingebremst werden
und werden Lehrpersonen eingeschüchtert?
Welchen Nationalstolz habt ihr,
wenn Österreich ganz hinten ist in der Klimabilanz
und statt einschneidener Maßnahmen gegen Erderwärmung
sich einen Minister leistet,
der noch schneller dem Untergang entgegenrast?
Warum preist ihr die aufbauende Nachkriegsgeneration,
die mit wenig viel geleistet hat,
und kürzt heute Menschen in Not
die Notstandshilfe weg?
Warum legt ihr Kränze nieder und beschwört,
es dürfe nie wieder Krieg geben,
und beteiligt euch an Kriegsvorbereitungen,
haltet an der Wehrpflicht fest
und füttert die Kassen der Kriegsindustrie?
Warum lobt ihr die Nation
und meint damit engstirnigen Nationalismus,
um sich gegen Vereinte Nationen und EU zu stellen?
So manches Gerede der Republiksrepräsentanten
wird zur Heuchelei,
weil die Taten so ganz anders sind als die Worte,
die heute gewählt werden.
Klaus Heidegger, 12.11.2018, 100 Jahre Republik Österreich