Ring the bells – weihnachtliches Licht leuchtet durch die Risse

Dunkelheit liegt über den Feldern von Betlehem. Sklaven bewachen die Herde vor wilden Tieren. Die Sklaven, man wird sie dann Hirten nennen, tun es für ihre Herren, die in der nahen Stadt Jerusalem in Palästen und stattlichen Häusern residieren. Den Herren gehören die Schafe und Ziegen – und würde nur ein Tier verloren gehen, würden die Hirten grausam bestraft werden. Der Zutritt zum Tempel in Jerusalem war den Hirten verwehrt, galten sie doch wegen ihres Umgangs mit Tieren als unrein. Angst und Schrecken liegt über den Feldern von Betlehem. Dunkelheit. Mittendrin Maria und Josef und der in Windeln Gewickelte. So beginnt in dem legendarischen Bericht des Lukasevangeliums die neue Königsherrschaft Gottes. Der Neugeborene wird zum König stilisiert – deswegen die Stadt Davids. Josef stammt aus dem Geschlecht Davids. Betlehem und König David sind eindeutige Codes. Damit wird ein politischer Anspruch erhoben. Die vermeintliche Peripherie wird zum Zentrum.

Die lukanische Weihnachtslegende verpackt tiefe Wahrheiten in poetisch-politische Sprache und Codes. Die Metapher von Dunkelheit und Licht zählt dazu. Das Licht von Weihnachten dringt wie ein wundersamer Schein in diese Nächte. Der Stern von Betlehem. Der Glanz der Engel. Die himmlischen Scheinwerfer richten sich auf das neugeborene Kind von Mirjam und Josef. Die „erniedrigte“ junge Frau singt das Lied vom politischen Umsturz inmitten von Schafen und einem Ochs und einem Esel, so die weitere Ausschmückung in den Apokryphen. Wie die hebräischen Hebammen zu Beginn der Exodusgeschichte ist Mirjam aus Nazareth. Sie trägt den Namen Mirjam, das heißt „die Widerspenstige“. Wie Mirjam, die beim Auszug aus Ägypten dem Volk voranging und auf die Pauke haute, so wiegt Mirjam in der weihnachtlichen Nacht ihr Neugeborenes und singt: „Die Armen werden emporgehoben werden.“ Frauen treten aus ihrer Opferrolle und werden zu Akteurinnen und Führerinnen. Die Lyrics des Magnificats ist das revolutionäre Wiegenlied des Neugeborenen. Weihnachten ist die Realisierung dieses Liedes. Mirjam von Nazareth wird ihn Jesus, Jöschua nennen, das heißt: „Gott rettet.“ In die ganze bedrohte Schöpfung hinein wird er geboren, der Retter der Welt, der Friedensfürst. Später einmal wird Leonard Cohen in dem Song “Anthem” singen und dichten: „There is a crack in everything, that’s how the light gets in.“ Frei übersetzt: Dort, wo die Brüche in unserer Gesellschaft sind, dort wo die Zerbrochenheiten in den verschiedensten Kontexten unseres Lebens sind, gerade dort kann das Friedenslicht von Weihnachten durchscheinen.

Die politischen, sozialen und ökonomischen Dunkelheiten von damals erinnern an die Dunkelheiten von heute. Die Mächtigen, ganz oben der Kaiser Augustus und seine brutalen Statthalter und die Könige vor Ort – sie werden namentlich im Weihnachtsevangelium aufgezählt, sichern sich ihre Herrschaft mit Waffengewalt und Brutalität. Ein Großteil der Menschen lebte in bitterer Armut. Schuldsklaverei war an der Tagesordnung. Besonders Mädchen und Frauen waren Opfer der herrschenden Verhältnisse. Die römische Besatzungsherrschaft in Kooperation mit den Lokalaristokraten unterband jedes Aufbegehren mit noch schärferer Repression. Gerade in dieser Situation, gerade in diesen Zustand äußerster Bedrohtheit und Verletzlichkeit, kommt der himmlische Ruf „und Frieden den Menschen auf Erden“. Die biblischen Friedensstifter folgen einer anderen Logik und Strategie als die Herrschenden. Sie vertrauen der Kraft der Liebe und setzen nicht auf Gewalt. Wenn Maria dann später mit ihrem Sohn und vielen Gefährtinnen und Gefährten durch die Landschaften Judäas und Galiläas zieht, vielleicht hat sie dann ihr altes Lied noch verändert und mit ihm im Kreis der Jüngerinnen und Jünger gesungen: „Die Mächtigen selbst steigen von ihren Thronen und beginnen mit den Niedrigen ein Fest zu feiern. Die Reichen beginnen zu teilen und niemand mehr wird leer ausgehen.“ „That’s how the light gets in. Ring the bells.“ So kommt das Licht. Wir können die Weihnachtsglocken hören. Hört die Signale, ihr nicht mehr Verdammten. Wacht auf.

In den dunklen Nächten unserer Zeit wird zu Weihnachten einmal mehr spürbar, dass die letztsiegreiche Macht nicht von den Herrschaftszentren dieser Welt ausgeht, sondern von den Ställen. Der Erlöser der Welt hat Stallgeruch. Seine Mutter riecht nicht nach teuren Parfums und Josef der Bauhandwerker trägt keine Maßanzüge. Basisnah. Erdverbunden. Menschenverbunden. Tierverbunden. Sozial Deklassierte knien sich nieder und stehen auf und verkünden. Und Könige beugen ihre Knie und teilen ihre Schätze und ziehen hinaus in die Welt. Das wird dann ein Fest sein: Wo die Reichtümer gerecht verteilt werden, so dass alle genug zum Leben haben. Wo nicht mehr mit noch mehr und noch besseren Waffen für Kriege gerüstet wird, sondern Menschen endlich beginnen, der Kraft der Gewaltfreiheit und Liebe zu vertrauen und lernen und einüben, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Weihnachten erzählt davon: Eine andere Welt ist möglich und sie hat bereits begonnen. Ein 15-jähriges Mädchen in Schweden fordert Hunderte Staatsmänner zum Handeln gegen den Klimawandel auf. Ring the bells – das gilt auch für die vielen Dunkelheiten in persönlichen Situationen, wo Sehnsucht viel größer als Erfüllung ist. Dann kann eine liebevolle Umarmung wie ein Lichtstrahl durch den Spalt scheinen, dann kann ein Besuch oder selbst ein Anruf oder ein Posting über soziale Netzwerke zum weihnachtlichen Licht werden. Du, ich, wir, hier und heute – können Träger von diesem Licht sein. That’s how the light gets in.

Klaus Heidegger