Systemisch-strukturelle Ursachen für psychische und sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche

Systemisch-strukturelle Ursachen für psychische und sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche

Einleitend

Die Jänner- und Februarwochen des Jahres 2019 waren geprägt von Berichten und auch medial geführten Diskussionen über sexuelle Gewalt, die von Klerikern bzw. in kirchlichen Einrichtungen geschehen sind und aufgedeckt wurden.

Ermutigend ist zum einen von Seiten des Papstes das Vorhaben, im Rahmen einer Missbrauchskonferenz im Vatikan Ende Februar 2019 über dieses Thema zu reden. Im Zusammenhang mit der sexuellen Gewalt, die Nonnen von Priestern erfuhren, hat Papst Franziskus klare Worte gefunden. Auf dem Rückflug von Abu Dhabi nach Rom meinte er: „Ich weiß, dass Priester und auch Bischöfe das getan haben … Und ich glaube, es wird immer noch getan.“

Als historisch kann in diesem Kontext das Gespräch gewertet werden, das Kardinal Schönborn mit Doris Wagner führte, die als Ordensschwester missbraucht wurde. Schönborn traf sich in einem Studio des Bayerischen Rundfunks mit der früheren Ordensfrau. Dabei nannte er auch die strukturellen bzw. systemimmanenen Wurzeln für Übergriffe an Klosterschwestern wie das „Macht-Ungleichgewicht zwischen Priestern und anderen Gläubigen“ sowie eine Überhöhung des Priesteramtes, die dieses Ungleichgewicht nochmals verstärke.

Dieser strukturkritische Ansatz ist notwendig. Zu oft wurde von kirchlichen Autoritäten und in den Medien nur der Täter für sein Vergehen verurteilt, nicht aber das System, das solche Taten wesentlich mitverursacht. Das Fehlverhalten der einzelnen ist damit nicht zu entschuldigen, doch es hilft zu erklären, warum es dazu gekommen ist. Vor allem aber kann nur mit System- und Strukturveränderungen eine Kirche geschaffen werden, in der Frauen nicht mehr entwürdigt werden und Männer nicht mehr zu Tätern werden. Die Vorsitzende der Ordensgemeinschaften Österreichs, Schwester Beatrix Mayrhofer, meinte dazu, man müsse die Frage stellen: „Was macht Menschen zu Tätern?“, sonst könnten die „Systemschwächen“ nicht behoben werden.

Innerhalb der katholischen Kirchen war es über Jahrzehnte von Seiten der Kirchenleitung nicht gewünscht, die strukturellen Dimensionen zu benennen. Reformkritsche Aufbrüche wie die Befreiungstheologie oder die feministische Theologie wurden verdrängt. Fast vierzig Jahre nach dem Erscheinen des Buches von Leonardo Boff „Kirche, Charisma und Macht“ – es prägte mein Theologiestudium – scheint nun die Zeit für solche Ideen reif zu sein. Was Initiativen wie das Kirchenvolksbegehren, „Wir sind Kirche“ oder die Pfarrerinitiative sowie auch beispielsweise die Katholische Frauenbewegung in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit forderten, wird nun auch im Reden von Kirchenverantwortlichen aufgegriffen.

Die folgenden vier strukturellen Dimensionen sind zueinander in Interakion und Interdependenz, was bedeutet, dass eine Dimension die anderen verstärkt. Zugleich sind die strukturellen Veränderungen immer auch rückgebunden an die theologischen Begründungszusammenhänge.

 

  • Missbrauch hat mit Machtmissbrauch aufgrund autoritärer Kirchenstrukturen zu tun

In seltener Klarheit hat Kardinal Schönborn in dem Gespräch mit der ehemaligen Ordensfrau Doris Wagner auch die Kirchenstrukturen angesprochen, die im Hintergrund von Missbrauchsfällen stünden. Helmut Schüller, Sprecher der Pfarrerinitiative, sah darin eine große Hoffnung und meinte: „Das wird sicher dazu beitragen, die fälligen Reformprozesse in der Kirche anzustoßen.“ Es gehe freilich nicht nur um das Missbrauchsthema, sondern „um die Grundverfassung der Kirche“. Die Strukturen würden ganz wenigen Menschen ganz viel Macht geben. In der TV-Sendung „Im Zentrum“ sprach der Jesuit Andreas Batlogg von einer oft männerbündlerischen „Macho-Kirche“.

Diese Analyse vom Machtungleichgewicht zeigt zugleich auf, wo Reformen geschehen müssten. Wie laufen Entscheidungsprozesse in der Kirche – von der kleinen Ebene einer Pfarrgemeinde bis in den Vatikan hinein? Das Zweite Vatikanische Konzil hat bereits zahlreiche demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten ermöglicht. Es gibt auf der Ebene der Pfarrgemeinden die Pfarrgemeinderäte. In den Gliederungen der katholischen Aktion sind auf diözesaner wie österreichweiter Ebene die leitenden Funktionen gewählt. Immer muss zugleich gefragt werden: Wo haben Priester und Bischöfe zu viel Macht? Wie kann diese Macht geteilt bzw. kontrolliert werden?

  • Missbrauch und Genderfrage

Zurecht hat Kardinal Schönborn die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in der katholischen Kirche als Wurzel für sexuelle Gewalttaten an Frauen genannt: Sie sei eine „Uraltsünde in der Kirche“. Der Kardinal sieht hier großen Handlungsbedarf: „Die Frauen-Frage ist eines der großen Zeichen der Zeit.“ Er sei überzeugt davon, dass die Missbrauchsproblematik – mit allem was sie aufwühle und in Bewegung setze – „die Frage der Frau in der Kirche in ein neues Licht stellen“ werde.

Es brauche ein Geschlechterverhältnis „auf Augenhöhe“ in der Kirche, forderte die höchstrangige Ordensvertreterin Österreichs. In diesem Zusammenhang sagte Sr. Mayrhofer mit Ironie zum Thema Weiheämter für Frauen: „Wenn’s die Männer ausüben ist es Dienst, und wenn’s die Frauen anstreben ist es Macht.“

Die Forderung, dass Männer wie Frauen die gleichen Rechte wie Pflichten in der Kirche haben, muss notwendigerweise dazu führen, dass auch das Diakonats-, Priester- und Bischofsamt für Frauen geöffnet wird. Alle theologischen Argumente sprächen jedenfalls dafür.

  • Sexuelle Gewalt und die Ideologie „geweihter“ Männer

Kardinal Christoph Schönborn zeigte in dem bereits genannten Interview mit Doris Wagner auf, worin das falsche Priesterbild liege, das zu Missbrauch führen könnte: „Der Priester ist sakral, er ist unberührbar. Er ist ‚Herr Pfarrer'“. Und weiters: „Wenn dieses Priesterbild vorherrscht, dann ist Autoritarismus die ständige Gefahr. Der Pfarrer bestimmt alles. Es ist die Gefahr, dass der Pfarrer sich mehr leisten darf als die anderen.“

Welche Konsequenzen könnten daraus folgen? Eine Überhöhung der klerikalen Existenz durch magisch-anmutende Riten in Form von „Weihen“ müssten zumindest in lutherischer Wagemutigkeit diskutiert werden. Die evangelischen Kirchen zeigen uns seit 500 Jahren, dass Dienste in der Kirche nicht notwendigerweise mit einer „Weihe“ verbunden sein müssten. Sie bergen jedenfalls die Gefahr in sich, dass ein Mensch nach außen sakrosankt wirkt, was nochmals durch bestimmte Symbole wie Priestergewänder unterstrichen wird. Daher müsste auch diskutiert werden, ob es der richtige Weg ist, einfach zu sagen: Öffnen wir das dreifache Weiheamt für die Frauen, damit Männer und Frauen in der Kirche gleichberechtigt partizipieren können.

  • Zölibat sowie Unterdrückung und Abwertung von Sexualität

Auf mehreren Dimensionen kann es einen Zusammenhang zwischen sexueller Gewalt und einer unterdrückerischen und verdrängenden Sexualmoral geben, wie sie in Teilen der Kirche zu finden ist.

Wenn das Zölibat als eine Lebensweise gewählt wird, die mit Verdrängung oder gar Abwertung der Sexualität verknüpft wird, dann birgt sie in sich jene Gefahren, die zu Missbrauch führen könnten. Die #MeToo-Bewegung hat deutlich gezeigt, dass sexuelle Gewalt und Übergriffe jedoch nicht ursächlich mit einer bestimmten Lebensweise zu verknüpfen sind. Sie wurden verübt von Ehemännern wie von allein lebenden Männern, von Männern jeder sozialen Stellung und in jedem Alter. Es wäre daher ein Kurzschluss, aus dem Zölibat den Schluss zu ziehen, die gewählte Ehelosigkeit hätte mit Missbrauch direkt zu tun.

Vor allem aber bräuchte es in diesem Zusammenhang die Betonung jener Tradition in den Kirchen, die sich in den biblischen Schriften bereits findet, in der Sexualität zunächst als Geschenk und Erfahrungsraum des Göttlichen gewertet wird. Wo immer Sexualität als Gefahr oder gar etwas Böses gewertet wird, kommt es zu Verdrängungen. Wo Sexualität positiv in das Leben integriert wird, kann sie beitragen zu erfüllenden Beziehungen.

 

Klaus Heidegger, 17. Februar 2019