Steine fallen lassen – eine Lehrgeschichte zur gewaltfreien Aktion

 

Claudia Nietsch-Ochs: Ehebrecherin 1985;

Die Geschichte (Johannes 8,1-11), in der Jesus eine Frau, die als Ehebrecherin bloßgestellt wird und die Todesstrafe der Steinigung erhalten soll, zählt zu den eindrucksvollsten in den Evangelien. Sie wird uns nur einmal im Johannesevangelium überliefert und auch dort ist sie erst später dazugefügt worden. So gehört sie zu den jüngsten Texten in den Evangelien. Auch wenn sie somit aus formalexegetischen Gründen nicht zu den Stellen zählt, die bestimmten Kriterien der Historizität entsprechen, so möchte ich sie doch als typisch jesuanisch interpretieren. Die Art und Weise, wie Jesus hier auftritt, was er sagt und tut, wie seine Gegner agieren, wie die sozial-ökonomische und sozio-kulturelle Umgebung ist, all das bringt letztlich die jesuanische Botschaft und ihre Hintergründe auf den Punkt. Sie zeigt uns vor allem die gewaltfreie Strategie der Entfeindung.

In den elf Versen dieser Perikope gibt es für Jesus gleich 13 Verben. Jesus ist der Handelnde. Jene, die als seine Gegner geschildert werden, werden dabei zu Zuhörenden und Zuschauenden. Es heißt: Jesus geht, begibt sich, setzt sich, lehrt, bückt sich, schreibt, richtet sich auf, sagt, bückt sich wieder, schreibt, richtet sich auf, sagt, sagt. Auffallend ist vor allem dieses zweimalige Bücken und wortlose In-den-Sand-Schreiben und Sich-wieder-Aufrichten. Nach den anklagenden Worten der Gegenseite kommt durch die Handlungsweise Jesu plötzlich Ruhe in eine völlig aufgepeitschte Situation. Der sich bückende Jesus nimmt Kontakt mit der Erde auf und macht sich selbst verletzlich. Wie er so kniet und auf die Erde schreibt, könnte ihn leicht selbst ein Stein treffen. Es ist wie eine paradoxe Intervention. Mich erinnert die Szene an Greta Thunberg, wie sie mit ihrem Pappschild schweigend vor dem schwedischen Parlament kauert. Ihre Botschaft lautet zunächst einfach: In diesem Wahn der Zerstörung mache ich nicht mehr mit.

Im Evangeliumtext bei Johannes sehe ich die Frau, die gesteinigt werden soll, nicht als Täterin, auch wenn sie vorgestellt wird als jene, die „auf frischer Tat ertappt“ worden sei. Wenn sie schon ertappt worden ist, was ist dann mit dem Mann? Warum wird er nicht gesteinigt? Sehr schnell geschieht durch das Handeln Jesu die radikale Umkehr von der Opfer-Täter-Zuschreibung. Nicht mehr die Frau ist die Täterin, sondern die Männer mit den Steinen in ihren Händen könnten zu Tätern werden, wenn sie die Steine nicht fallen ließen.

Wenn wir uns auf die Geschichte einlassen, fällt es nicht schwer, die Bezüge ins Heute zu finden und den bleibenden Gehalt dieser Bibelstelle wahrzunehmen. Wir sehen die Steine, die heute aufgehoben werden, um zu töten oder zu verletzen. Wir sehen die Opfer, die gesteinigt werden sollen, wir sehen die Täter, die zur Umkehr bewegt werden sollen.

Im weit entfernten Sultanat Brunei wurde erst Ende März 2019 wieder die Steinigung eingeführt. Wenn homosexuellen Partnern gemeinsamer Geschlechtsverkehr nachgewiesen wird, droht ihnen künftig, dass sie zu Tode gesteinigt werden. Als Grundlage wird auf die Scharia verwiesen. Was in diesem Staat geschieht, dessen Reichtum auf den Ölexporten beruht, ist die schlimmste Form einer menschenverachtenden Homophobie. Es sind Organisationen wie Amnesty International, die in die Rolle von Jesus schlüpfen und sagen: Lasst die Steine fallen! Die homophoben Steinchen fallen aber in anderer Dimension immer noch auf vielfältige Weise in unseren Kulturen und Grundmustern. Warum fällt es beispielsweise manchen in der katholischen Kirche so schwer, gleichgeschlechtliche Partnerschaften auch als „Ehen“ anzuerkennen? Warum sprechen sich immer noch manche kirchliche Vertreter gegen eine „Ehe für alle“ aus? Überall dort, wo heute noch Schwule und Lesben nicht die gleichen Rechte haben oder schräg angeschaut werden, werden die homophoben Steinchen geworfen.

Die Geschichte im Johannesevangelium ist hochpolitisch und richtet sich gegen alle Staaten, die heute noch in ihrer Gesetzgebung die Todesstrafe haben. 56 Staaten halten weiterhin an gesetzlichen Hinrichtungen fest. In diesen Ländern leben allerdings rund zwei Drittel der Weltbevölkerung. Mit einigen dieser Staaten haben wir beste Handelsbeziehungen. Abertausend Häftlinge sitzen in ihren Zellen mit der täglichen Angst, hingerichtet zu werden.

Die schlimmsten Steine werden gegenwärtig poliert und gepflegt und gehegt und warten darauf, eingesetzt zu werden. Die Nato, der Nordatlantische Verteidigungspakt, feierte gerade sein 70-jähriges Bestehen. Besonders glücklich nannte sich Donald Trump, weil die Militärausgaben in den Nato-Staaten „raketenhaft steigen“. Alle 29-Mitgliedsländer der Nato werden bis 2020 100 Milliarden Dollar mehr für ihre Militärs ausgeben. Die letzten bestehenden Rüstungskontrollabkommen zwischen den Atommächten wurden aufgehoben. Die Steine, die die Atommächte in den Händen halten, sind die Atomraketen mit ihren Overkill-Kapazitäten, mit denen sie einen Teil der Menschheit auslöschen könnten. Militärische Logik herrscht auch in Österreich, wenn daran gedacht wird, die Tauglichkeitsbestimmungen zu lockern, um mehr junge Männer an das Militär zu binden, oder die Präsenzdienst zu verlängern. Ungeniert wird auch gefordert, das heimische Militärbudget zu verdoppeln.

Die Steine werden im politischen Kontext heute gegen jene erhoben, die als Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Die Steine heißen „Sicherungshaft“ oder „1,50-Job“ oder „Ausreisezentrum“.

Auf einer individuellen Ebene, in unseren Lebensbereichen, gibt es nicht diese gigantischen Zerstörungspotentiale, gegen die wir laut aufschreien sollten. In unseren Alltagswelten freilich gibt es die täglichen Kieselsteine der Vorwürfe. Jesus lädt uns ein, sie nicht zu werfen, weil auch sie ständig verletzen. Bevor wir anklagen, täte es gut, sich wie Jesus zu bücken. Es bleibt die Frage, was Jesus wohl in den Sand geschrieben hat. Ich vermute: Den Namen JHWH, jener Name, den ein frommer Jude nicht ausspricht, weil Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit zu groß ist, um gesagt zu werden, jener Name, der lautet: Ich bin da! Ich bin für dich da in deinem Leben, in deiner Sehnsucht und deinen Verletzungen, in deinem Bemühen und deinem Versagen, in deiner Freude und deinem Lachen.

Klaus Heidegger, Evangelium zum 5. Fastensonntag, 7.4.2019

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