Im Laufe des Kirchenjahres und für die heimische Volkskultur haben in Tirol das Herz-Jesu-Fest und die Herz-Jesu-Verehrung eine einzigartige Bedeutung. Jedes Jahr erneuert das offizielle Land Tirol in einem Festakt das Gelöbnis zum Herzen Jesu. Landauf landab finden Herz-Jesu-Prozessionen statt. Besonders eindrucksvoll sind die Bergfeuer am Vorabend des Herz-Jesu-Sonntags. In Südtirol brennen sie einen Tag später als im Norden. Es gibt in Tirol wohl nur wenige der älteren Dorfkirchen, in denen sich kein Herz-Jesu-Bild findet. Die Verehrung des Herz-Jesu zählt zur Mitte der urtirolerischen Volksfrömmigkeit und Heimatverbundenheit.
Wie kann dieses Fest ins Heute interpretiert und gelebt werden, damit es von mancher Last der Vergangenheit befreit wird und nicht nur ein Fest der Folklore ist? Als Lehrer frage ich mich besonders: Wie kann das Herz-Jesu nicht nur von Brauchtumsgruppen gefeiert werden, sondern auch für junge Menschen in ihren Lebenswelten eine neue Bedeutung finden?
Das Herz Jesu schlägt für die Politik, aber nicht für den Krieg
In Tirol drängt sich zunächst ein historischer Einstieg in die Betrachtung der Herz-Jesu-Verehrung auf. Die Kriege zwischen den Tiroler Aufständischen gegen die Franzosen und Bayern Ende des 18. Jahrhunderts und die Herz-Jesu-Verehrung erscheinen aus historischer Perspektive als untrennbares Paar. Vor dem geistigen Auge treten Andreas Hofer, Speckbacher und Haspinger auf, die mit dem Schwur auf das Herz Jesu ihre Männer in die Schlachten kommandierten. Seither lässt sich die Herz-Jesu-Verehrung vom Schützenwesen nicht mehr trennen.
Aus heutiger Sicht kann vor allem Pater Haspinger ein Missbrauch der Herz-Jesu-Verehrung und des Religiösen für militärisches Abenteuertum vorgehalten werden. Franz Kranewitter hat in seinem Stück über Andre Hofer diese Dimension eindrucksvoll in Worte gekleidet. Eine kritische Geschichtsbetrachtung ist in einem Land notwendig, in dem die Aufstände heroisiert wurden. Heute würden wir theologisch anders reden: Wer in den Krieg zieht, kann sich nie auf Jesus und sein Herz berufen. Der Tiroler Landtag hatte sich anno dazumal getäuscht. Es waren sicher nicht Gott und das Herz Jesu im Spiel, als die Bayern und Franzosen in einer grausamen Schlacht verloren. Wegen solcher Verquickungen fordern manche daher heute, dass Religion und Politik nicht vermischt werden dürfen. Die Kirchen sollten sich am besten aus dem politischen Alltagsgeschehen herausnehmen. Die Herz-Jesu-Verehrung sei eine rein spirituelle Angelegenheit.
Dies ist jedoch ein Fehlschluss. Weil die Religion im Allgemeinen und die Herz-Jesu-Verehrung im Speziellen beim Tiroler Aufstand politisch missbraucht wurden, folgt daraus nicht, dass Religion und auch die Herz-Jesu-Verehrung nicht bewusst andere politische Inhalte verkörpern können. Die bewusste und explizite Verbindung von Politik mit religiösen Ideen und Praktiken ist notwendig. Geschieht diese Verbindung nicht, dann verkommt Religion allzu leicht zu einem Opium des Volkes, zu einer schöngeistigen, frömmlerischen Idee ohne weltgestaltende Kraft. Religion hat mit Politik zu tun.
Herz Jesu als Ausdruck der Menschlichkeit und Leiblichkeit Gottes
Die Wurzeln der Herz-Jesu-Verehrung reichen in die Ursprünge der Christenheit zurück. Das Herz Jesu war Symbol dafür, dass Gott in Jesus von Nazaret wahrer Mensch geworden ist. Er ist ein Gott mit Haut und Haaren. Er ist ein Gott zum Angreifen. Unser menschgewordener Gott ist keine bloße Scheingestalt, keine pure Idee, keine blutleere Abstraktion. Als Christen und Christinnen glauben wir an einen Gott mit menschlichen Zügen in der Gestalt des Menschen Jesus von Nazaret. Besonders der Evangelist Markus schildert die zutiefst menschlich-leiblichen Gefühle: Jesus hatte Hunger und Durst. Jesus hat an seinem eigenen Körper die Notlage seiner Landsleute erfahren. Jesus konnte so müde sein, dass er selbst bei schwerem Seegang im Boot einschlief. Jesus war wütend, als er die Händler aus dem Tempel warf, und er schwitzte Blut – Ausdruck seiner Angst vor der kommenden Marter. Jesus weinte, als er das Unglück Jerusalems herankommen sah. Das Herz Jesu fasst all diese leiblichen Gefühle und Regungen zusammen. Ein theologischer Stehsatz lautet ungefähr so: Weil Gott ganzer Mensch wird, erscheint auch der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit als Gottes Ebenbild. Der Mensch mit Leib und Seele ist wertvoll. Als Zentrum des Leibes gilt das Herz. Wer dies ernst nimmt, ahnt die Konsequenzen.
Achtung der körperlichen Integrität
Wenn die körperliche Integrität jedes Menschen geachtet würde, dann müsste es jedem Christenmenschen wehtun, wenn Flüchtlinge an den EU-Grenzmauern scheitern. Wenn die ganze Menschlichkeit der Flüchtlinge geachtet würde, dann würde Aufruhr in diesem Land entstehen – anders als der Aufruhr zwar unter Andreas Hofer. Christlichkeit hat sich daher zu materialisieren. So führt eine recht verstandene Herz-Jesu-Verehrung nicht vom Menschen weg, sondern zum Menschen hin. Somit gilt: Die Verehrung des Herzens Jesu kann dazu beitragen, offen zu sein gegenüber allen Menschen, besonders aber gegenüber jenen, die in Not sind.
Herz Jesu als Zeichen unbedingter Liebe
Das Herz gilt als das meistverwendete und deutlichste Symbol für Liebe. Im christlichen Sinne geht es nicht um irgendeine Liebe. Sie hat eine possessive Zuordnung. Es ist die Liebe Jesu. Das Herz Jesu andächtig verehren heißt dann auch, sich auf die Dimension der Liebe Jesu einzulassen. Sie ist mehr als ein zärtliches Gefühl jenen gegenüber, die mir sympathisch sind. Sie umfasst auch jene in ganz besonderer Weise, die eigentlich meine „Feinde“ sind, die mir gegenüber negativ gesinnt sind. Das christliche Reizwort lautet „FEINDESLIEBE“. So könnte eine andächtige Verehrung des Herzens Jesu bewirken, dass ich mich von seiner Feindesliebe anstecken lasse. Sie ist eine gewaltfreie Liebe, die Eisberge voller Hass und Entzweiung zum Schmelzen bringen könnte, die Spiralen der Gewalt jäh unterbrechen und Auswege der Entfeindung anbieten könnte. Mit Blick auf das Herz Jesu öffnen sich die Geschichten dieses galiläischen Wanderpredigers. Immer wieder geht Jesus offensiv gerade auf jene zu, die quer zu den Interessen seines Volkes und der religiösen Tradition lebten: Er lässt sich vom Zöllner Zachäus einladen. Er lässt sich auf einen römischen Hauptmann ein, dem Kommandanten einer Armee, die mit brutalen Mitteln das jüdische Volk unterjochte. Hinter den Rollen und Funktionen sieht Jesus stets das Herz und erkennt das sehnsüchtig suchende Herz des Zachäus und des Hauptmanns von Kafarnaum.
Herz Jesu als notwendige Zentrierung
Oftmals zählt in der dominierenden Leistungsgesellschaft nicht das Herz. Der Verdrängungswettbewerb in vielen Bereichen des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lebens passt nicht zu einer Herzlogik. Ideologisch definierte Schönheit, Stärke, Macht, Reichtum und Erfolg sind oftmals die dominierenden Parameter, um soziale Anerkennung zu bekommen. Wer hingegen herzorientiert statt leistungsorientiert lebt, für den oder die tun sich andere Dimensionen auf. Da sind wir dann in der Welt der jesuanischen Gleichnisse, beim barm-HERZ-igen Samariter zum Beispiel, der nicht wie der fromme Priester und pflichtgetreue Tempeldiener die Not seines Mitmenschen übersah. Da sind wir in der Welt des barm-HERZ-igen Vaters, der seinem Sohn die Fehltritte nicht moralisierend vorhält, oder bei den Arbeitern im Weinberg, die nicht nach berechenbarer Leistung entlohnt werden. Eine Herzorientierung öffnet uns vor allem aber die Welt der Frauen um Jesus: Die Welt einer Mirjam von Magdala, die um ihren geliebten Herrn weinen konnte und in ihrer übergroßen Verzweiflung den Auferstandenen erspürte. Wir sind bei Maria von Betanien, die ihr Herz mit Jesus teilte. Wenn wir nun herzorientiert leben, dann blicken wir zuerst auf das Herz eines Menschen statt auf seine akademischen Grade und Titel. Das Herz wird wichtiger als die dicke Brieftasche und der angesehene Beruf. Die Schönheiten der Menschen mit Beeinträchtigungen werden mit Blick auf deren Herz erschlossen. Es geschieht eine Umwertung. Von „Umkehr“ sprach der Mann, dessen Herz wir verehren. Wer heute mit Kindern zu tun hat, wer sich auf deren Erfahrungswelt einlässt, der oder die weiß, was Herzorientierung bedeutet. Kinder werten andere Menschen primär nach deren Herzensqualität. Ein Kind öffnet sich nicht einem Erwachsenen, weil diese Person etwa viel weiß, viel besitzt oder mit besonderen Leistungen aufwerten kann. Die HERZ-lichkeit ist das, was in den Begegnungen von Kindern mit Erwachsenen zählt. Jesus hat daher bewusst ein Kind in die Mitte gestellt und so das Kindsein zum Maßstab des Christlichseins genommen.
Das Herz des biblischen Jesu
Und wie kommen wir zu dieser Achtung des Menschlich-Leiblichen, dieser Feindesliebe und Herzorientierung? Von „Imitatio Dei“, „Nachahmung Gottes“, sprachen christliche Theologen und Theologinnen. „Nachfolge“ nannte es Jesus in der religiösen Sprache seines Volkes. Wenn ich nun den biblischen Jesus und den historischen Jesus von Nazaret als Maßstab nehme, kann die Herz-Jesu-Verehrung zu einer befreienden Praxis verhelfen. Sie dient dann nicht der Konservierung bestehender ungerechter Verhältnisse, sondern revolutioniert uns zum Aufbruch in das Reich Gottes.
Herz-Jesu-Verehrung als Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Gewalt
Herz-Jesu-Bergfeuer brennen zu Beginn des Herz-Jesu-Sonntags. Zeichen der Verbundenheit mit Christus sind die Feuer, die da an einem Frühsommerwochenende von Berggipfeln und Bergkämmen ins Tal zu den Menschen herunter funkeln. 1796 gab es keine modernen Kommunikationsmittel. Die Feuer waren Signalfeuer für den Landsturm. Auch die Bergfeuer können heute als Warnfeuer verstanden werden, beispielsweise gegen die permanenten Belastungen durch den überbordenden Transitverkehr, gegen den Verkehrslärm und die krankmachenden Emissionen. Die Herz-Jesu-Verehrung am Herz-Jesu-Freitag verknüpft sich mit Fridays-for-Future-Aktivitäten. Eine „Herz-Jesu-Bundeserneuerung“ tut daher not. Als politisch bewusste Menschen können wir das alte Herz-Jesu-Gebet sprechen. Wenn wir um den Segen für unsere Familien und unser Land beten, dann auch darum, dass sich Kinder und Jugendliche gut und frei entfalten können. Daher brauchen wir Kindergärten, Schulen und Spielplätze, wo die Bedürfnisse der Kleinen unserer Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Wenn wir um Stärke zum Guten beten, dann auch darum, dass wir Kraft zum Widerstand haben gegenüber dem, was uns kaputtmacht: Die Transitlawine nur als ein Beispiel. Wenn wir um Hilfe zum Dienst in Gerechtigkeit und Frieden bitten, dann hat dies auch mit einer Willkommenskultur gegenüber den Flüchtlingen zu tun. Wenn, wie es schließlich im Herz-Jesu-Gebet heißt, unser Land nach dem Willen des Herzens Jesu gestaltet sein soll, dann wird der ganze Veränderungsbedarf der politischen Wirklichkeiten greif- und fühlbar. Dann sehen wir auch die Tausenden kleinen und großen Wirklichkeiten, die heute schon, zumindest ansatzweise, dem Willen Jesu konkrete Gestalt geben. Wer sich dem Herzen Jesu anvertraut, wird selbst ein offenes Herz haben.
Dr. Klaus Heidegger, Vorsitzender der Katholischen Aktion der Diözese Innsbruck, Vertreter der Berufsgemeinschaft der Religionslehrerinnen und Religionslehrer für AHS/BMHS.