Freitag, 2. August 2019: 7:30 Uhr. Momentaufnahmen
Inmitten der Obstplantagen des Bozner Unterlandes. Regen passt zu meiner Stimmung. In Neumarkt überquere ich die Etsch. Sie wird mich nun über viele Stunden begleiten. Ich kenne die Strecke. Es werden von Neumarkt im unteren Etschtal über Bozen, Meran und den Reschenpass 180 Kilometer sein. Es sind zugleich 180 Kilometer, die sich mit der Via Claudia Augusta im Wesentlichen decken. Es gibt wohl kaum Radwege, die so lang und irgendwie auch so ursprünglich und panoramareich sind. Nur vom Reschenpass hinunter werde ich die kürzere Variante von Nauders bis Pfunds wählen.
Radfahren ins Innere
Während die Kurbel des Rennrades surrt, drehen sich nun meine Gedanken und ich weiß, sie werden mich begleiten bis zum Endpunkt meiner Reise. Jede Fahrt mit dem Rad ist mir nicht nur eine Fahrt an äußerer Oberfläche, sondern auch in das Innere meines Seins. Dies wird wohl bei vielen so sein. Reden und schreiben andere über ihr Radfahren, so handelt dies meist nur von dem Äußeren, den Landschaften, den körperlichen Erlebnissen, den Begegnungen mit Menschen auf einer Reise. Die Gedanken und Gefühle sind jedoch viel wacher und intensiver beim Radfahren, weil die Ablenkungen geringer sind und Gedanken nicht mit anderen Tätigkeiten weg gejagt werden können. Manche Gedanken und Gefühle wiegen schwerer als das Carbonrad und das Gepäck, das ich heute dabei habe. Mit anderen Worten: Radfahren ist für mich höchste Gefühls- und Gedankenarbeit, wenngleich es immer ein Leben im Moment ist und auch das reflektive Schreiben darüber eine Momentaufnahme bleibt.
Etschradweg
Ich bin am Etschradweg, der sich zu Beginn mit dem Damm deckt, der die Etsch von den Obstplantagen trennt. Sie ist hier ein großer Fluss – kräftig wie oftmals Gedanken und Gefühle, die fortreißen könnten. Ich fahre entlang der Ortschaften Auer und Leifers Bozen entgegen. Nur kurz kann ich meine Regenmontur ausziehen, um sie dann bei Bozen wieder anzuziehen. Ich trete gemütlich. Zu sehr bin ich in Gedanken gefangen, die mich wie Fäden mit Situationen in meinem Leben verbinden. Bei diesem Regenwetter bin ich fast alleine am Radweg. Nach einer Stunde gemütlichen meditativen Dahintretens, die Etsch stets zu meiner Linken, kommt es zur Biegung bei Schloss Sigmundskron. . Bozen kann so leicht im Süden umfahren werden. Erst gestern fuhr ich auch an dieser Stelle vorbei, hinauf nach Eppan und Kaltern zur Weinstraße. Ich hatte noch Zeit, um die Pfarrkirche in Tramin zu besuchen und Sankt Valentin außerhalb der Ortschaft. Eingeprägt hat sich mir das Fresko von Jesus, der blutschwitzend kniet, während ein kleiner Engel ihm Trost spendet.
Regen und Regengefühle begleiten mich bis Meran. Bei einer Unterführung ziehe ich mir wieder die Regenmontur ab. 10.09 Uhr. Ein Graffiti hüpft mich an. „People always leave, sometimes they come back.“ Der Regen hat aufgehört. Es kommt die Sonne durch. Gedankenversunken radle ich das Vinschgau hinauf. Mein körperliches Herz ist stark. Ich brauche keine Pausen. Ich freue mich über die wenigen Steilstufen, die etwas Abwechslung bringen. Die Etsch ist zum kräftig-stürmischen Gebirgsfluss geworden. Raftingunternehmungen bietet sie Möglichkeit, mit Funsportarten gute Geschäfte zu machen und Touristen freuen sich auf die spektakuläre Abwechslung. Fast mühelos trete ich und spüre kein Ermüden. Der Etschradweg wird meist nur bergab befahren. Der Wind ist mir im Rücken. Mehrmals widerstehe ich der Versuchung, eine der kleinen Kirchen aufzusuchen und mich in die Fresken zu vertiefen. Selbst das frühchristliche Prokuluskirchlein in Naturns lasse ich heute links liegen. Die Etschradroute geht entlang der Talsohle auch durch den Nationalpark Stilfser Joch. Dort sind mächtige Bäume. Weiße Marmorblöcke stehen nun am Radweg. Das härteste Gestein.
Skulpturen am Weg
Am Radweg kurz vor Laasa sind Skulpturen aus dortigem Marmor. Sie spiegeln mein Fragen, Hoffen und Sehnen wider und ich bremse ab, auch wenn meine Durchschnittsgeschwindigkeit am heutigen Tag nicht überragend sein wird. Zu sehr bin ich in Gedanken und Gefühlen versunken. Eine Skulptur trägt den Titel „Unbekümmertheit“. Ich lese die Erklärung, die der Künstler dazu geschrieben hat: „Meine Säule Unbekümmertheit zeigt ein kleines Mädchen, welches ohne Ängste durch eine massive Wand springt. Es symbolisiert die Freiheit des Denkens und Ausprobierens und die Unbekümmertheit, die wir alle als Kinder noch haben, die uns aber im Laufe der Zeit all zu oft abhandenkommt, weil wir durch sinnvolle, aber auch viele sinnlose Regelungen und Gesetze sukzessive angepasst werden. Die Skulptur soll auffordern, wieder öfter das Kindliche zuzulassen.“ Kunstwerk und Tafel entsprechen genau jenen Gedanken und Gefühlen, die mich während des Radfahrens begleiten, die Erfahrung von Grenzen, die einengen und einsperren, aber auch die Erfahrung von Begegnungen, die frei machen und frei setzen und das Unbekümmerte in mir selbst zum Schwingen bringen. Die Fahrt dauert nicht lange und wieder bremse ich ab. Die nächste Skulptur trägt den Titel „ICH BIN DIE FREIHEIT?!“ Der Künstler Achim Ripperger schrieb dazu: „Wer in sich frei ist, gestaltet eine freie Welt. Mein Skulptur erhält von einem Vogel die Botschaft: ‚Mensch, nicht ich bin die Freiheit, die Du immer im Außen suchst, Du trägst sie in Dir, Du bist es selbst.‘ Im Moment der Rückfrage ‚Ich bin die Freiheit?!‘ kommt die Erkenntnis, dass der Mensch sich tatsächlich selbst befreien kann und wird. Der zweite Vogel im Haus auf dem Rücken symbolisiert diese gewonnene Erkenntnis.“ Mit diesen Skulpturen habe ich jedenfalls Geist und Seele wieder gefüllt für die nächsten Kilometer.
Fahrt auf den Reschenpass
In Glurns stauen sich bei einem Würstelstandl Menschen und tatsächlich hätte ich Lust auf etwas Salziges. Drei Müsliriegel sind die ganz Nahrung für die lange Strecke. In der geschlossenen Glurnser Pfarrkirche bleiben meine Blicke beim Fresko außerhalb hängen. Wie so oft an der Außenfassade hin zum Friedhof stellt es die klassische Jüngstes-Gericht-Szene dar. Rechts sind jene Menschen, die von einem Engel ins Paradies geschoben werden. Noch vor kurzem hatte ich immer Schwierigkeiten mit solchen Darstellungen. Aus der Perspektive einer präsentischen Eschatologie ist es aber auch ein Hoffnungsbild – dass es Engel gibt, die unsere Welt und mich selbst in ein glückliches Leben schieben können und dass ich manchmal auch selbst Engel sein kann, der diese Schiebekraft hat.
Selbst nach mehr als 100 Kilometern flacher Steigung freue ich mich nun auf die Strecke hinauf auf den Reschen. „Via Claudia Augusta“ steht auf den vielen Radwegschildern, die seit Neumarkt den Weg weisen. Am Beginn des Radweges auf den Reschen sind die monumentalen Bunkeranlagen, die 1919, genau vor 100 Jahren, nach der Annexion Südtirols durch Italien, errichtet worden waren. Sie sind wie steinerne Zeugen einer Vergangenheit, an die niemand erinnert werden möchte. Meine Gedanken schweifen nun in die Geschichte. Urtümlich sind die letzten Ortschaften auf dem Schuttkegel der Malser Haide. Steinerne Häuser, Bergdörfer, die noch die Kargheit der ursprünglichen Bauernkultur widerspiegeln. 14:30 Uhr. Die Kirchenglocken von Burgeis läuten. Ein Leichenzug geht durch das Dorf, vorbei an den uralten steinernen Bauernhäusern und ihren Fresken und alten Portalen und Erkern. Es ist, als wäre die Zeit um ein paar Jahrhunderte zurückgedreht. Der tosende Verkehr auf den Reschenpass ist zum Glück ganz auf der anderen Seite. Nun ist die Etsch zum Bächlein geworden, das sich ein kleines Bachbett entlang des Fahrradweges gegraben hat. Die steilen Rampen – manchmal bis zu 20 Prozent – liebe ich heute. Längst haben sich über dem Reschen Gewitterwolken zusammengezogen und Blitze sind hörbar, die irgendwo in den Reschensee knallen. Heute schätze ich sogar das Gewitter und den kräftigen Regen. Höhenmeter sind es es nicht viele, verteilt auf eine lange Strecke. Von 150 m Seehöhe bis auf 1500 m und stets entlang der Etsch. Ich kann Natur spüren. Schon am Haidersee am Ende der Malser Haide beginnt es kräftig zu regnen und zu stürmen. Ich stemme mich dem prasselnden Regen entgegen. Am Stauseedamm des Reschensees steht einsam eine Fernradlerin mit Sandalen und zieht sich Regenjacke über. Wie so oft muss ich an das Gedicht von Bert Brecht vom Radwechsel denken: „Ich sitze am Straßenrand. Der Fahrer wechselt das Rad. Ich will nicht dorthin, woher ich komme, ich will nicht dorthin, wohin ich fahre. Der Fahrer wechselt das Rad.“
Ende von Anfängen und stets ein Dazwischen
Tunnels und Galerien werde bei diesem Verkehr etwas bedrohlich erlebt. Immer wieder beeindruckt mich die Naturgewalt der Enge von Finstermünz. Tief unterhalb der Schluchten ist der Inn aufgrund der Unwetter zum braun-reißenden Gebirgsfluss geworden. Nach dieser Abfahrt bin ich jedenfalls froh, in Pfunds zu sein und genieße auf der mir so bekannten Dörferstrecke und letztlich der alten Römerstraße die letzten Kilometer bis zu jenem Ort, der mir einmal Heimat war. Der innere Monolog hat mich die lange Fahrt begleitet.