Glockengeläute von Kirchtürmen weckt in mir Auferstehungsgefühle. Kein Läuten der Kirchenglocken heute. Nur Stille. Kein Läuten um Drei Nachmittags. Es aushalten müssen: Die Stille. Die Trauer. Den Schmerz angesichts von so viel körperlichem und seelischem Leid in der Welt. In dieser Leere und Stille den Blick lenken auf jenen, der da gequält, entblößt, verspottet, gedemütigt, missbraucht und grausam hingerichtet wurde. Es ist eine Blickrichtung, die wegführt vom Beschäftigtsein mit dem eigenen Unerfüllten in dir. Mit Blickrichtung Kreuz verschieben sich die Dimensionen. Es ist eine Blickrichtung, die frei macht für ein Aufstehen gegen das vielfache Leid in der Welt.
Ein Bild in einem Religionsbuch der Maturaklasse kommt mir in den Sinn. Der Gnadenstuhl von Walter Zacharias. Ich baue es nach. Ich hole vom Garten zwei Bretter. Verwittert sind sie und aus dem Leben genommen. Eines ist noch voller Erde. Gott hat sich in Jesus mit dieser Erde dreckig gemacht. Erst gestern am Gründonnerstag, in der Erzählung vom letzten Abendmahl laut Johannesevangelium, wurde daran gedacht: Jesus wusch die dreckigen Füße seiner Jüngerinnen und Jünger. In diesem dreckigen Herunterkommen offenbart sich Göttliches. Unter einem der alt-verwitterten Bretter hatten sich Käfer versteckt. Mit Längsbalken und Querbalken bilde ich ein lateinisches Kreuz. Die Vertikale ist die Verbindung von Himmel und Erde, die Verbindung von Gott und Erde, wobei Gott nicht die Kraft da oben ist, sondern stets die dynamische Verbindung von oben und unten und unten und oben. Die Horizontale ist die Verbindung von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Welt, wobei gerade in dieser Verbindung sich die Vertikale in einer kraftvollen Mitte verbindet. Ich bastle die göttliche Dramaturgie. Einen Draht forme ich zu einem Kreis, wie ein Leitungsdraht, durch den Strom fließen könnte, eine unsichtbare Energie. Ich umwickle ihn mit gold-gelbenem Seidentuch. Sichtbar wird im Symbol Kreis die Unendlichkeit der göttlichen Strahlkraft, ohne Anfang und Ende und zugleich immer neu im Anfang, wie im Anfang der Schöpfung. Göttliches ist in der Dynamik des Kreuzes zu finden und die göttliche Geistkraft sitzt als Taube im Schnittpunkt der Achsen. Die Natur kennt keine Kreuzesform. Kreuz in diesem Sinne ist übernatürliches Geschehen. Da treffen sich Transzendenz und Immanenz und verschmelzen zu einem im Augenblick des Daseins. Doch in der Natur gibt es die unendlich vielen Astgabeln, die das Wesen der Bäume charakterisieren. Eine Astgabel steht auch für den Gekreuzigten und seine Arme, die sich im Geschehen des Kreuzes dem Geist und Göttlichen entgegen strecken. Abertausende Zeitungsmeldungen könnte ich mit Nägeln an diese Kreuz heften. Von Bootsflüchtlingen, die im Mittelmeer die Arme den noch verbliebenen Rettungsbooten entgegenstrecken. Zu viele sind schon ertrunken. Es sind die Kinder, die ihre Arme nach den Vätern und Müttern strecken, die sie in blutigen Kriegen längst schon verloren haben und heute in den Flüchtlingslagern vor und hinter den Toren Europas vegetieren. Es sind die emporgestreckten Arme der Millionen in den Elendsvierteln dieser Welt, die in Zeiten der Corona-Pandemie besonders gefährdet sind, weil sie kaum Wasser zum Hände waschen haben, weil sie auf engstem Raum zusammen gepfercht sind und auf sie keine Intensivmedizin wartet. Die emporgestreckten Arme sind allgegenwärtig und ihr Ruf lässt erschaudern. Mein Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?
Klaus Heidegger, Karfreitag 2020