Der Schrecken von Moria
Am 8. September 2020 brannte das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Beginnend mit den Fluchtbewegungen im Spätsommer 2015 wurde in den Medien sehr viel von den katastrophalen Bedingungen in Moria berichtet. Ein Lager, das ursprünglich maximal 2800 Flüchtlinge aufnehmen hätte sollen und das nur als Zwischenlager gedacht war, platzte seit Jahren mit zuletzt 12.000 Flüchtlingen aus allen Nähten. Es gab unermessliches Leid, Verzweiflung und einen täglichen Überlebenskampf, hinzu kamen sexuelle Übergriffe, Vergewaltigungen und Gewalttätigkeiten. Eine Fülle von Krankheiten entstand unter den äußerst mangelhaften sanitären Bedingungen. Ein Sager vom damaligen Außenminister Sebastian Kurz aus dem Jahr 2016 schien sich zu bewahrheiten. Es kann „unschöne Szenen“ geben, meinte er, als er sich stark dafür machte, die Grenzen dicht zu machen und keine Flüchtlinge mehr in den Staaten der EU aufzunehmen. Aufgrund von Covid 19 waren die Flüchtlinge im Lager Moria zuletzt über Monate in Quarantäne eingesperrt. Auf 1300 Bewohnerinnen und Bewohner kam ein Wasserhahn. Unter den Flüchtlingen waren besonders viele Kinder und Jugendliche, weswegen Hilfsorganisationen und die Kirchen seit langer Zeit forderten, zumindest diese Hilfsbedürftigen sofort aus der „Hölle von Moria“ zu holen. Städte – wie die Stadt Wien oder Innsbruck – hatten sich bereit erklärt, Menschen aus dem Lager von Moria aufzunehmen. Nach dem Brand leben die Menschen weiterhin in unwürdigen Verhältnissen.
Türkise Aufnahmeverweigerung
Doch anders als ein Großteil der Staaten der EU hat Sebastian Kurz als Regierungschef von Beginn an den Kurs vorgegeben, dass keine Flüchtlinge aus den überfüllten Flüchtlingslagern in Österreich aufgenommen werden dürfen. Von dieser Haltung wich er auch keinen Millimeter ab, als das Flüchtlingslager abbrannte. Für diese harte Linie haben seine Spin-Doktoren ein System von Argumenten aufgebaut, das diese Politik der Nicht-Aufnahme stützen sollte.
Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge
Argument 1 des Bundeskanzlers lautet, dass Österreich ohnehin schon genügend minderjährige Flüchtlinge aufgenommen hätte und damit mehr als jeder andere EU-Staat geleistet habe. Sebastian Kurz behauptete, dass Österreich allein in diesem Jahr 3700 Kinder und Jugendliche aufgenommen hätte. Das wären somit wöchentlich bis zu 100 Kinder und Jugendliche, denen in Österreich Asyl gewährt worden sei.
Ein genauer Blick zeigt sofort: Die angeführten Kinder sind a) Flüchtlinge, die nicht alle in diesem Jahr eingereist sind, sondern deren Asylverfahren zum Teil schon länger dauerte, b) wobei darunter auch Kinder sind, die einen subsidiären Status erhielten. Jedenfalls sind dies im Wesentlichen keine Neuaufnahmen. Vor allem aber stimmt die Zahl nicht. Die Diakonie in Österreich, die sich besonders in der Flüchtlingsfrage engagiert, legt Zahlen vor, dass im heurigen Jahr maximal 600 Kinder und Jugendliche aufgenommen hätten werden können. Auch laut Innenministerium hätten bis Juli 2020 nur 571 UMF einen Asylantrag gestellt. Alle Altersgruppen zusammen wurden in Österreich im Jahr 2020 4205 Menschen Asyl gewährt.
Humanitäre Notlösung
Das zweite Argument lautet, dass Österreich ohnehin mit seinen Asylkapazitäten an der Grenze wäre. Hinter der Forderung, vor allem Kinder und Jugendliche aus Lesbos aufzunehmen, wie sie von bestimmten Parteien wie der SPÖ, den Grünen oder den NEOs, Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen sowie den Kirchen gefordert wird, steht aber zunächst nicht die Frage nach Asyl, die Teil der völkerrechtlichen Verpflichtungen Österreichs ist, sondern eine humanitäre Aufnahme in einer Notsituation. Bewusst werden vom Bundeskanzler diese beiden Ebenen miteinander vermischt, um eine Notmaßnahme nicht zu ergreifen.
Die Bedingungen nach dem Brand in Moria waren für den Großteil der Flüchtlinge schlimmer als zuvor. Ein Vertreter der österreichischen Caritas, die vor Ort zur Nothilfe anwesend ist, berichtete am 18.9.: „Die Zelte im neuen Lager haben keinen Boden, das Lager liegt direkt am Meer und in Kürze wird es nass, windig und kalt. Duschmöglichkeit dürfte es bis dato auch keine geben. Noch immer sind tausende Menschen rund um das ehemalige Camp Moria obdachlos, schlafen in den Olivenhainen und am Straßenrand. Eine Sofortevakuierung der besonders verletzlichen Gruppen wie Familien und Kindern, Kranken und alten Menschen, etc. muss oberste Priorität haben. Der nächste Winter kommt bald…
Essens- und Wasserverteilungen an geflüchteten Menschen außerhalb des offiziellen Lagers sind ab sofort durch die griechischen Behörden verboten! Wer Nahrungsmittel verteilt und dabei erwischt wird, muss Strafe zahlen.“
Die konkrete Nothilfe für die Betroffenen in Moria schließt nicht aus, dass es auch jene vielen größeren Ansätze braucht, um Flucht- und Migrationsbewegungen zu minimieren. Menschen fliehen vor Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Würden die Kriege durch einen Verzicht auf Waffenhandel ausgetrocknet werden, gäbe es weniger Flüchtlinge. Menschen fliehen von den großen Umweltkatastrophen im Kontext der Erderhitzung. Daher braucht es auch die längerfristigen Strategien ein er klimafreundlichen internationalen Politik. Doch oberste Priorität muss zunächst sein, das enorme Leiden der Flüchtlinge auf Lesbos zu lindern. Dazu braucht es die Bereitschaft aller europäischen Staaten, Flüchtlinge nach einem Verteilungsschlüssel aufzunehmen.
Flüchtlinge, nicht Migranten
In der Sprache der türkisen Minister werden Menschen, die in den Flüchtlingslagern sitzen, oftmals nicht Flüchtlinge, sondern Migranten genannt. Sie erscheinen nicht mehr als schützenswerte Opfer von Situationen des Kriegs oder der politischen Verfolgung, sondern als Menschengruppe, die ohne triftige Gründe in den Staaten der EU einwandern möchten. Damit entsteht die typische Opfer-Täter-Umkehr. Flüchtlinge werden zu einer Menschengruppe, die bedrohlich für die autochthone Bevölkerung ist, die gefährlich ist für das eigene Land. Innenminister Nehammer meinte nach dem Brand im Flüchtlingslager, es sei doch klar, dass man nicht Kriminelle aufnehmen könne, die ihre eigenen Unterkünfte anzündeten.
In seiner Argumentation, Flüchtlinge nicht aufzunehmen, nennt der österreichische Bundeskanzler gerne die Gefahr, dass Europa von Migranten überlaufen werden könnte. Damit verstärkt der Regierungschef ohnehin noch die Ängste vor Masseneinwanderung, die tatsächlich in der Bevölkerung vorhanden sind.
Das Lager Moria als Symbol europäische Asylpolitik
Moria kann als Symbol der gescheiterten europäischen Asylpolitik gesehen werden. In den Lagern an den Außengrenzen leben Flüchtlinge wie in einem Gefängnis. Nachdem sie zuerst unter Lebensgefahr über das Mittelmeer geflohen waren, warten sie nun in einem Lager oft einige Jahre auf eine Entscheidung ihres Asylantrags. Wenn der Antrag abgelehnt wird, werden sie in die Türkei abgeschoben. So sieht die vielzitierte „Sicherung der Außengrenzen Europas“ aus, die von der ÖVP seit Jahren gefordert wird.
Solidarisches Handeln der Völkergemeinschaft
Österreich spielt damit innerhalb der EU eine negative Rolle, wie beispielsweise die deutsche Bundeskanzlerin kritisch vermerkte. Mit dieser sturen Haltung der österreichischen Regierungsspitze wird ein solidarisches Handeln der EU torpediert. Der luxemburgische Außenminister gab offen dem österreichischen Bundeskanzler die Hauptschuld für die schlimme Situation in den Lagern. Asselborn wörtlich: „Für mich heißt der Missetäter Sebastian Kurz. Er hat diese erbärmliche Situation als Allererster zu verantworten.“ Ganz Europa sei Kurz‘ Gerede auf den Leim gegangen, „man müsse nur die Grenzen schließen, damit sich das Flüchtlingsproblem erledige“, kritisierte Asselborn. Was die Türkisen betreiben, ist Abschreckungspolitik auf Kosten der Ärmsten, wenn sie argumentieren: Wenn wir diese aufnehmen, dann würden auf einmal Hunderttausende aufbrechen und zu uns kommen wollen.
Die EU müsste gerade in diesem zentralen Problem zu einem gemeinsamen Handeln auf der Basis der Menschenrechte kommen. Das würde bedeuten, dass das EU-Mitgliedsland Griechenland sich nicht dagegen wehrt, Flüchtende auch ziehen zu lassen, wenn einzelne Staaten – wie Deutschland – bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen.
Gebot der christlichen Nächstenliebe: ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen
Dabei beruft sich die ÖVP auf christlich-soziale Grundsätze. Vertreter der Kirchen haben aber deutlich darauf aufmerksam gemacht, dass es dem Gebot der christlichen Nächstenliebe entsprechen würde, den Flüchtlingen auf Lesbos in einer Weise zu helfen, dass wirklich ihre Grundrechte gewahrt werden. Dies würde bedeuten, mehr zu tun, als die Flüchtenden so recht und schlecht in Lagern festzuhalten.
Klaus Heidegger, Vorsitzender der Kath. Aktion der Diözese Innsbruck, 18.9.2020
(Ein Argumentationspapier)