Blaue Stunde am Glungezer.

„Ich trete in die dunkelblaue Stunde –
da ist der Flur, die Kette schließt sich zu
und nun im Raum ein Rot auf einem Munde
und eine Schale später Rosen – du!“ (Gottfried Benn, Blaue Stunde)

3.15 Uhr morgens. Noch rauben keine Autos die Stille der Nacht. Nur auf der Autobahn, unter der ich mit meinem Rad auf dem Weg von Hall nach Tulfes durchradle, donnern schon einige Fahrzeuge. Bald schon wird die Lärmhölle der A-12 das ganze Inntal wieder einlullen. Ich mag immer den kühl-frischen Fahrtwind, der aufweckt und Tränen löst. Im Wetterbericht wurde von einer der kältesten Aprilnächte gesprochen. Ein einziger weißer Lieferwagen fährt auf der Auffahrt nach Tulfes an mir vorbei. Die geschlossene Schneedecke beginnt erst bei der Tulferhütte auf 1335m. So waren es 800 HM mit dem Rad. 1247 HM und 6 Kilometer liegen jetzt vor mir. 4.11 Uhr. Ober mir ein Sternenmeer im Nachthimmel, unten leuchten die Lichter im Inntal, manche bunt wie die Kugeln bei den Heiligen Gräbern, die ich gerade vor einer Woche noch besucht hatte. Im Dunkel die Lichter. Oben und unten. Dazwischen ein einsames Ich. Die Piste hinauf bis zum Schartenkogel wurde am Vortag von den schweren Geräten präpariert. Die Furchen sind pickelhart. Die Begrenzungsstangen strahlen das LED-Licht der Stirnlampe wider. Einmal erschrecke ich von einem Waldtier, das wahrscheinlich nicht weniger durch mich erschreckt wurde. Ein richtiges Berggefühl kommt dann erst bei der Schäferhütte auf. Jetzt beginnt die Blaue Stunde. Noch eine gute halbe Stunde ist es bis zum Gipfel. Die Konturen des Glungezer und der Sonnenspitze lassen sich erkennen. In meinem Gehen sind keine Müdigkeit, kein Durst und kein Hunger, vielleicht wäre der Saft in der Trinkflasche ohnehin schon gefroren. Meine Gefühle und Gedanken drehen sich wie immer im Kreis. Nur Stille und etwas Wind und die Laute des Kratzens von den Fellen an den Ski, die fast den Gipfel hinauf fliegen. Vorbei an der Glungezerhütte, die diesen Winter gar nie offen sein konnte. Kurz nach sechs bin ich am Gipfel. 2675 HM. Die Hände frieren sofort, als ich die Felle von den Ski löse und etwas von der Schönheit der Blauen Stunde digital festhalte. Es ist noch Zeit, das wunderbare Schauspiel im Osten zu sehen – das dunkle Orange, das Rot, das Violett – bis um 6.30 goldgelben am Horizont über den östlichen Tuxeralpen die Sonne aufgeht und die schneebedeckten Gipfel der hohen Zillertaler- und Stubaier Alpen zärtlich von diesem Licht berührt werden. Auch ich lasse mich berühren vom goldenen Licht der Sonne. Nun muss ich mich beeilen. 6.45 Uhr. Um 7.55 Uhr beginnt der Online-Unterricht. Sechs Stunden Online-Schule und eine mehrstündige Online-Konferenz am Nachmittag warten auf mich. Da tun die analogen Erfahrungen davor gut.  Pulverschnee bis zur Schäferhütte und dann ziehe ich weite Schwünge in die unverspurten gerillten Pisten hinunter. Vom Gipfel bis zum Rad sind es nicht mehr als 15-Minuten.Während ich das Rad von der Kette befreie, höre ich Morgenvögel zwitschern. In meinem Herzen sind melancholische Stimmungen, wie sie auf so geniale Weise Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht „Blaue Stunde“ formuliert hatte.

„…
die Lampen, gedunsen, betreten im Blau,
letzte Gesichter! Nur deins glänzt genau.
Tot die Bücher, entspannt die Pole der Welt,
was die dunkle Flut noch zusammenhält,
die Spange in deinem Haar scheidet aus.
Ohne Aufenthalt Windzug in meinem Haus.
Mondpfiff – dann auf freier Strecke der Sprung,
die Liebe geschleift von Erinnerung.“

klaus.heidegger