Das Bildmotiv vom Guten Hirten
Zu den beliebtesten Jesusdarstellungen in den Kirchen zählt jenes vom „Guten Hirten“. Dieses Motiv reicht in den Beginn der Christenheit hinein. Schon immer war der „gute Hirte“ die verbreitetste Bezeichnung für Jesus Christus. Wir finden dieses Symbol bereits in den frühchristlichen Fresken und Mosaiken. Der Hirte mit dem verlorenen Schaf ist die älteste Christusdarstellung überhaupt. Wenn ich mit dem Rad unterwegs bin, nehme ich mir meist Zeit, um in einer Kirche Halt zu machen. Immer wieder entdecke ich dabei den „Guten Hirten“. Interessant finde ich die Darstellung in Kurtatsch in Unteretsch. Jesus wird dort gezeigt als Hirte, der nicht nur fürsorglich ein Schaf auf seinen Schultern trägt, sondern zugleich mit dem durchbohrten Herzen.
Jesus ein Selbstdarsteller?
Insbesondere aus den Wahlzeiten oder auch aus Bewerbungssituationen kennen wir das Narrativ: „Wählt mich, weil ich bin der Beste oder die Beste…“ Jesus hingegen war aber wohl alles andere als ein Populist. Passen die Ich-bin-Worte überhaupt zu ihm oder sind sie nur wunderschöne Dichtung aus dem lebendigen Glauben der späteren christlichen Gemeinden?
Reich Gottes als Mittelpunkt und keine Selbstdarstellung
Die sogenannten „Ich-bin-Worte-Jesu“ im Johannes-Evangelium sind keine Worte, die Jesus selbst so gesprochen hat. Die kritische Bibelexegese klassifiziert sie nicht als „ipsissima verba“, das heißt es sind nicht Worte, die von Jesus selbst stammen. Was wir historisch-kritisch über diesen Mann aus Nazareth sagen können, lautet: Er war Jeschua ben Mirjam aus Nazareth in Galiläa: Jesus, Sohn der Maria, der als Wanderrabbi mit einem bunten Haufen von Jüngern und Jüngerinnen die prophetisch-messianische Reich-Gottes-Tradition des Volkes Israel aufgegriffen hat und damit bewusst provokant die herrschende Clique aus römischer Besatzungsmacht und lokalen Kollaborateuren und Mitläufern herausforderte. Als tiefgläubiger Jude hat er sich nicht selbst als „Gott“ inszeniert. Dies wäre in jüdischem Verständnis „Blasphemie“ gewesen. Im ältesten Evangelium schreibt Markus mehrmals davon, dass Jesus nicht als Messias bezeichnet werden wollte. Auch diese Bezeichnung wäre politisch missverstanden worden. Die Mitte seiner Botschaft wird aber gleich im 1. Vers dieses Evangeliums als programmatisches Vorzeichen deutlich. Dort heißt es lapidar: Das Reich Gottes ist angekommen. (Mk 1,1) Jesus hat keine Nabelschau betrieben. Ihm ging es nicht darum, sich selbst in Szene zu setzen, sondern seine Botschaft vom Reich Gottes lebendig werden zu lassen. Dieser Blick ist wichtig, damit die Selfie-Generation heute mit egozentrischen Selbstinszenierungen über Soziale Medien nicht auch noch sagen könnte: Dieser Jesus hat sich selbst narzisstisch überhöht. Jesus hatte keine Chamäleon-Existenz, mit er sich an die soziale Umwelt einfach angepasst hätte. Die Jesusbewegung hat sich hat sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung gestellt, indem sie die als „unrein“ gemachten Schafe auf die Schultern nahm, und sich so selbst „unrein“ gemacht hat. Ein Profilbild von Jesus auf Instagram oder Facebook würde nicht ihn zeigen, sondern eines dieser vielen Schafe.
Die Schafe auf seinen Schultern
Würde dieser Jesus heute leben, so würde er kein optimiertes Social-Media-Profil haben, in dem er sich als „Sohn Gottes“ anpreist. Man würde keine Selfies von ihm entdecken, dafür aber die an den Rand Gedrängten seiner Zeit: jene, die als Opfer am Rand der Gesellschaft leben mussten, die Deklassierten, die Kranken, die gedemütigten Frauen. Sie sind die Schafe auf seinen Schultern, die in den Blick genommen werden.
Die verlorenen Schafe heute und die „Guten Hirten“
Der jesuanische Blick bewahrt uns vor einer Schäferromantik und zeigt uns, wo die Schafe zu finden sind. Es sind die flüchtenden Menschen in den Elendslagern am Rande Europas. Es sind all die Menschen, die einfach zu wenig haben für ein menschenwürdiges Leben, weil ihre Grundbedürfnisse nicht gedeckt werden. Der „Gute Hirte“ ist heute zu finden in den Hilfsorganisationen, in den Politikerinnen und Politikern, die sich wirklich um das Wohl der Menschen sorgen, in einer Kirche, die nicht um sich kreist.
Sozio-kulturelle Hintergründe zum Bild vom „Guten Hirten“
Der Jude und Rabbi Jesus war mit dem Hirtenbild gut vertraut. Die großen Gestalten des Judentums – Abel, Abraham, Isaak oder Jakob – waren Hirten. Auch Mose wurde als Hirte gesehen und die zentrale Gestalt im Judentum, der König David, war einst Hirte.
Wenn der Evangelist Johannes Jesus sprechen lässt „ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,11), dann steht dahinter die Erfahrung der ersten Gemeinschaften von Jüngern und Jüngerinnen, wie Jesus als Auferstandener in ihrer Mitte realisiert wurde. Nicht als Terminator-Gestalt, der „tabula rasa“ macht mit denen, die nicht in eine bestimmte Linie passen, sondern einfühlsam hinhorchend, jeden und jede in der eigenen Existenz ernst nehmend. Diese Jesus-Gestalt kennt jedes Blöken der Schafe, egal ob schwarz oder weiß. Jedes Schaf hat Vertrauen zu ihm. Dieser Jesus wird in der johanneischen Gemeinde des 1. Jahrhunderts identifiziert mit einem Berufszweig, der in der Hierarchie der jüdisch-palästinensischen Gesellschaft Jesu ganz unten stand, galten Hirten doch im System von „rein-unrein“ als unrein, weil sie den Kontakt mit den Tieren pflegten. Allerdings konnten sich die frühen christlichen Gemeinden im Kontext der griechisch-römischen Antike auf ein anderes Hirtenmotiv beziehen. Es gab auch Hermes den Götterboten, der meist dargestellt wurde mit einem Schaf auf seinen Schultern.
Hirtengleich
Das Hirtenmotiv finden wir auch in der Geburtslegende im Lukasevangelium. Der Neugeborene wird von den Hirten begrüßt. Von Beginn an passt also Hirte mit Jesus zusammen. Jesus ist nicht kaisergleich, sondern hirtengleich, nicht gegürtet mit Schwert, sondern ausgestattet mit Hirtenstab. Was Hirten immer schon auszeichnete, ist die Verbindung mit der Natur, denn nur so wissen sie, wie sie den Wölfen ausweichen und die Wasserstellen finden können. Jesus wird zunächst nicht einmal als Ackerbauer bezeichnet, weil diese Existenzweise schon stärker auf Besitz von Grund und Boden beruht und damit mit Sesshaftigkeit verknüpft ist. Ein Hirte hingegen war damals unterwegs und verkörpert so eine Nomadenexistenz.
Jesus-Selfies als Auferstehungswirklichkeit
Die Johannes-Gemeinde hatte noch weitere Metaphern, um die erfahrene Auferstehungsexistenz Jesu zu versinnbildlichen. Es heißt von Jesus: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“. Und wieder steckt dahinter die Erfahrung, dass in der Verbundenheit mit Jesus Christus das Leben gelingen kann. Es ist die Erfahrung, dass das Leben schön wird, wenn wir in Beziehungen, in Gemeinschaften, in der Kirche, in den Dörfern und Stadtteilen, in den Schulen und Klassenzimmern, in den Fabriken und Arbeitsstätten rebengleich wie ein Team zusammenarbeiten. Solches wird „Frucht“ bringen können. In die heutige Sprache übersetzt könnten die Johannes-Worte lauten: Ich bin der Coach, der euch zu Teamplayern macht, und eure Arbeit wird gelingen. Die Erfahrung mit Auferstehung zeigt, dass Jesusnachfolge ein gutes Leben für alle zum Ziel hat. Dies kann nicht erreicht werden durch Einzelgängertum, durch egoistische Ellbogentaktik oder durch Win-Lose-Strategien. Die sauren Weinbeeren an den Reben sind die Karrieresüchtigen und jene, die nur auf den eigenen Gewinn achten.
Vom Sitz im Leben
Johannes schrieb für eine Gemeinde, die brutaler Verfolgung ausgesetzt war. Auch heute gibt es noch Millionen Christinnen und Christen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Zur Zeit der Abfassung des Johannesevangeliums wurden jene, die sich zu Jesus bekannten, aus den „Synagogen“ ausgeschlossen und mit Steinen beworfen. Von der römischen Zentralmacht wurden Christen und Christinnen gnadenlos verfolgt. Alle Apostel erlitten einen grausamen Tod. Petrus wurde gekreuzigt, Paulus geköpft, Stefanus gesteinigt, die Apostelin der Apostel verdrängt. Trotzdem wuchs die Zahl der Jesusanhänger, weil sie wussten: Seine Botschaft funktioniert. Sie haben erfahren: Da gibt es niemanden mehr, der in diesen Gemeinden Not litt, weil man zu teilen begonnen hatte. Da wurden die Häuser zu Orten der Gastfreundschaft und das Gerücht über die ersten Christen verbreitete sich im ganzen römischen Reich: Seht, wie sie einander lieben!
Ich-bin-Worte des Auferstanden heute
Welche Ich-bin-Worte, oder im Polit-Jargon unserer Zeit, welche „Je-suis-Worte“ Jesu entsprächen heute den Erfahrungen von Auferstehung Jesu Christi? Wie würden wir, die wir in einem Land leben, die wir nicht mehr in den Kategorien von „guter Hirte“ und „Weinstock“ denken, das Profil von Jesus wiedergeben? Vielleicht so: Ich bin das Rettungsboot für die Flüchtlinge, die bei der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer in Seenot geraten sind. Ich bin die Schülerin, die einer verzweifelten Mitschülerin Nachhilfe in Mathe gibt, damit sie das Klassenziel doch noch erreichen wird. Ich bin die Freundin, die einen Freund in einer traurigen Phase unterstützt. Ich bin die Caritas, die sich der konkreten Not in dieser Gesellschaft annimmt. Ich bin die Biobäuerin, die darauf achtet, dass es ihren Tieren gut geht und die Pflanzen ohne Großeinsatz von Chemie wachsen können. Ich bin der Unternehmer, der für ein gutes Arbeitsklima in seinem Betrieb sorgt und auf faire Produktionsverhältnisse achtet. Ich bin die Greenpeace-Aktivistin, die sich an Kampagnen gegen Atomkraftwerke beteiligt und selbst achtsam mit den Ressourcen dieser Welt umgeh. Ich bin die Pflegerin in den Intensivstationen, die sich liebevoll um die Covid-Patientinnen sorgt. Ich bin die Tochter, die Zeit für ihre pflegebedürftigen Eltern hat. Ich bin. Ich bin. Ich bin. … Es gibt dann in der Nachfolge Jesu plötzlich die Abermillionen Varianten vom guten Hirten und jeden Tag wieder neu die Chance, die wirklich wichtigen Dinge des Lebens nicht sprichwörtlich auf die leichte Schulter zu nehmen, sondern bereit zu sein, Lasten zu schultern wie der Hirte sein Schaf.
Klaus Heidegger, zum Sonntagsevangelium am 25. April 2021