Vertröstungen überwinden
„Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen.“ Es ist der bekannteste Satz aus dem „Wintermärchen“ von Heinrich Heine. 200 Jahre später hat dieser Aphorismus nichts an Aussagekraft eingebüßt. Auch am heutigen Himmelfahrtstag soll dieses „neue“, dieses „bessere Lied“ gesungen werden. Es ist wirklichkeitszugewandt und lustorientiert; es will den Himmel auf Erden und fordert zum Handeln für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit auf. Es geht vom Wissen aus, dass „hienieden Brot genug für alle Menschenkinder“ wächst – „auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust und Zuckererbsen nicht minder“. Heute würden wir sagen: Das Leben böte genügend Lust, wenn sie befreit, gelebt und nicht unterdrückt würde. Die Welt böte genügend Lebensmittel für alle – wenn sie nur gerecht verteilt wären. Ein gutes Leben für alle, das mit den einlullenden „Eiapopeias“ der Konsum- und Werbeindustrie und den populistischen Heilsversprechern nichts gemein hat, das wäre möglich.
Kirchen vertrösten nicht mehr
Anders als in der Zeit, als Heine sein „Wintermärchen“ dichtete, haben sich die Kirchen positioniert. Sie haben den Mut, das „irdische Jammertal“ in den Blick zu nehmen, die Flüchtlingskatastrophen anzuklagen, die ungerechten Verteilungen zu kritisieren und vor allem auf die Folgen der Erderhitzung hinzuweisen. Einen „Pfaffensegen“ – von dem Heine kritisch schreibt – gibt es heute nicht mehr für postfaktische Vertröstungen, sondern einen kirchlichen Segen für Flüchtlings- und Sozialinitiativen, für Klimaschutzmaßnahmen und Friedensbemühungen – ja, und auch für die Liebe, die in Beziehungen und Freundschaften gelebt wird (egal ob hetero- oder homosexuell!). Lange vor dem Dichtergenie Heinrich Heine hat der Evangelist Lukas als Autor der Apostelgeschichte mit der Himmelfahrtslegende die jesuanische Grundbotschaft als Vermächtnis festgeschrieben. „Schaut nicht hinauf …“, gibt Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern als letzte Worte mit auf den Weg, bevor er ihren Blicken entschwindet. Schaut euch in die Augen, ganz tief, um die Freude oder den Schmerz der anderen erfahren zu können. Schaut auf jene, von denen Bert Brecht in der „Dreigroschenoper“ schreibt „die im Dunkeln sieht man nicht“. Der österliche Blick sieht sie sehr wohl. Heute sagt uns Jesus: Schaut hinter die Betonwände der Flüchtlingslager auf Lesbos und auf die verzweifelte Lage der Palästinenser im Gazastreifen. Schaut auf jene, denen inmitten der Krise das Arbeitslosengeld gekürzt werden soll. Heinrich Heine, Bert Brecht und Jesus von Nazaret, sie eint das Bemühen um ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens. Dafür hat dieser Jesus gekämpft und dafür ist er gestorben. Nicht weniger erwartet er von seinen Kirchen heute. Daher beten wir im „Vater unser“: „Dein Reich komme … wie im Himmel so auf Erden!“ Der Himmelfahrtstag bewahrt uns vor einer Genickstarre und lässt uns lustvoll und mit Freude, engagiert und mit Wut im Bauch auf diese Welt und unser eigenes Leben blicken. Eine andere Welt ist möglich, eine himmlische Welt, hier unten, in meinem und deinem und unserem Leben.
Klaus Heidegger, Christi Himmelfahrt 2021, 13.5.2021