Lockdown
Die letzten sieben Monate waren geprägt von Einschränkungen. Die Pandemie erzwang Quarantänen. Der schulische Unterricht konnte nur begrenzt stattfinden. Grenzen waren geschlossen. Nächtliche Ausgangssperren führten zu gespenstisch-leeren Gassen und Straßen in Städten und Dörfern. Gasthäuser blieben leer. Viele Besuche waren verboten. Kultur- und Freizeiteinrichtungen konnten nicht besucht werden. Geburtstage und andere Feste wurden nicht groß gefeiert. All diese Vorsichtsmaßnahmen waren wichtig, um die Pandemie einzudämmen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und um Menschenleben zu retten! Es passt zur christlich-pfingstlichen Botschaft, wenn nun gerade in diesen Tagen vor Pfingsten Lokale wieder öffnen dürfen, Grenzen zu den Nachbarländern aufmachen, Sport in Freizeiteinrichtungen stattfinden kann und Kino- oder Theatersäle ihre Tore öffnen. Bei all diesen neuen Freiheit heißt es aber, die entsprechenden Hygienemaßnahmen einzuhalten, FFP-2-Masken zu tragen oder auf 2-Meter-Abstände zu achten, damit wir nicht wieder in eine neue Lockdown-Situation schlittern.
Lockdown der Jerusalemer Gemeinde
Eingesperrt, so waren sie auch, die Jüngerinnen und Jünger, bevor der pfingstliche Geist sie aufwirbelte, wie es uns der Evangelist Johannes beschreibt. Eingesperrt und voller Angst, so waren sie, die Apostelinnen und Apostel und mittendrin Maria, die Mama von Jesus, in ihrem Haus in Jerusalem. Die Tür war von innen verschlossen, um sich zu schützen vor dem Feindlichen da draußen. Nein, es war nicht die Furcht vor „den Juden“, die sie zwang, sich zu verbarrikadieren, weil die da drinnen hockten hinter Schloss und Riegel, die da drinnen sich trösteten, die waren selbst Jüdinnen und Juden, traumatisiert von der grausamen Hinrichtung von Jesus, der ihnen als Messias so vertraut geworden war. Die antijüdische Polemik im Johannesevangelium gilt es, heute kritisch zu benennen. Ausführlicher beschreibt uns dann Lukas in der Apostelgeschichte, wie sich nach 50 Tagen Lockdown sich das Wunderereignete, das wir seither „Pfingsten“ nennen.
Pfingstliche Wunder heute
Blicken wir um uns herum hinein in die Welt, hinein in unsere Dörfer und Städte, hinein in unsere Arbeitsbereiche, hinein in die Schulen und selbst hinein in unsere privaten Welten, so entdecken wir auch heute die versperrten Türen. Und das Eingeschlossensein. Und das Sichversperren.
Hinter so mancher Tür wohnt die Einsamkeit von Menschen, die keinen Mut mehr finden, auf andere zuzugehen, weil sie enttäuscht wurden, weil ihr Selbstwert sprichwörtlich am Boden ist oder weil sie einfach nur mehr warten können, dass endlich wer käme, um sie zu rufen, um sie zu befreien aus eigenem Gefangensein. Manchmal reichen eben nicht ein gutgemeintes „Sei-stark!“ oder beschwichtigende Worte wie „Nimm’s-nicht-so-ernst“. Im biblischen Pfingstereignis war es eine Kraft, die von außen spürbar wurde. Wir könnten ihn den Geist der Zärtlichkeit nennen. Oder den Geist der Ermutigung. Oder den Geist der Wertschätzung. Wir alle wissen, weil wir es erfahren haben und immer wieder erfahren dürfen, wie eine liebevolle Zuwendung aufrichtet, wie eine Umarmung Vertrauen schenkt, wie eine Berührung eine Lähmung löst, wie selbst eine WhatsApp-Nachricht ein kleines „Wunder“ bewirken kann oder wie ein wertschätzendes Angesprochenwerden aufrichtet. Dieser Geist der zuwendenden Zärtlichkeit wartet darauf, in uns lebendig zu sein und lebendig zu werden.
Wenn wir von unseren privaten Pfingsterlebnissen wegsehen, dann erkennen wir die lähmenden Kräfte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Fest verschlossen sind die Türen gegenüber Notleidenden; eingefärbt mit türkisem Anstrich sind sie. Davor hocken Flüchtlinge in katastrophalen Lagern, die so ganz den Menschenrechten widersprechen. Man schürt noch die Ängste vor den Habenichtsen, man sagt, es würden ja dann Tausende kommen, man sagt, man müsse zuerst seine eigenen Leute versorgen, man sagt, sie sollten zurück in ihre Heimat, in der Krieg herrscht, in ihr Land, in dem sie verfolgt wurden, in die Gebiete, die durch den Klimawandel unbewohnbar wurden. So hockt man selbstgerecht hinter den Türen und sucht nur das eigene Glück.
In den Mahnwachen und Kundgebungen gegen eine unbarmherzige Asylpolitik wird jedoch ein anderer Geist, ein widerständischer Geist spürbar – der Geist der Barmherzigkeit. Er möge auch gelten für die fast 500.000 Arbeitslosen in unserem Staat und für all jene, die hierzulande zu wenig zum Leben haben. Die Pfingsterzählung in der Apostelgeschichte nimmt Bezug auf die Vision des Propheten Joel. Es heißt dort: „Eure Kinder werden Visionen haben und eure Alten Träume!“ Wenn wir wieder gelernt haben, die Politik an Träumen von einem guten Leben für alle zu orientieren, dann werden sich die Türen öffnen, dann werden die Reichen mit den Armen teilen und alle werden genug haben.
„Eine andere Welt ist möglich“ – so wollen aufwecken heute die jungen Menschen, weil gerade noch könnte es gelingen, dass die Welt gerettet wird und die Erhitzung der Erde nicht über 1,5 Grad steigt. Bei den Aktionen von Fridays-for-Future oder Extinction Now tritt jener revolutionär-pfingstliche Geist zum Vorschein, der die Türen der Bequemlichkeit und eines zerstörerischen Mitläufertums aufbricht. Es ist ein Geist, der zu einem neuen, einem besseren Leben ermutigt. „Kehrt um!“, rief damals Petrus in seiner mutigen Pfingstpredigt den Versammelten zu, die zuhauf in der Stadt Jerusalem waren. „Kehrt um!“ – „our house is on fire“ – ruft heute Greta Thunberg und mit ihr rufen es längst schon Hunderttausende und verkünden es über Facebook, Instagram oder Twitter.
Von lähmendem Eingesperrtsein ist schließlich selbst die Kirche betroffen, die zu Pfingsten ihren Geburtstag feiert. Manche Kirchenfürsten haben Angst, sich dem pfingstlichen Aufbruchsgeist zu öffnen, der die „Leichen aus dem Keller“ holt, damit nicht ihr Gestank die letzten jungen Menschen aus der Kirche vertreibt. Dazu würde zählen, gerade im Bereich der moraltheologischen Verkündigung endlich die sexualfeindlichen Passagen aus dem Katechismus zu streichen. Man hat Angst, sich den Anliegen von Frauen zu öffnen und endlich auch in den kirchlichen Strukturen Gleichberechtigung zu schaffen, und verschließt sich hinter einem frauenfeindlichen Konstrukt längst überholter Argumente. Man verschließt sich gegenüber den Anliegen gleichgeschlechtlich liebender Menschen und will ihrem auch ganzheitlichen Sein den göttlichen Segen absprechen. Wenn jedoch der regenbogenbunte Geist von Pfingsten die Herzen ergreifen wird, dann brechen die längst modrig gewordenen sexistischen Konstrukte in sich zu zusammen und öffnen den Blick für göttliche Gegenwärtigkeit in der Vielfalt von Leben und Liebe.
Klaus Heidegger, Pfingsten 2021
wo göttliche Geistkraft wohnt
göttliche Geistkraft wohnt in liebevollen Worten
und im achtsamen Gespräch
im wertschätzenden Reden
und im Aufeinander-Hören
göttliche Geistkraft wohnt in Versöhnung
und in Gesten des Verzeihens
in Entschuldigungen
und in der Vergebung
göttliche Geistkraft wohnt im Zusammenhalt
und in wechselseitiger Rücksichtnahme
in einem offenen Herzen
und in lustvoller Begegnung
göttliche Geistkraft wohnt in solidarischem Handeln
und im Einsatz für die Schwachen
im Einklang mit der Natur
und in einem achtsamen Lebensstil
göttliche Geistkraft wohnt in den Regentropfen
die sich mit deinen Tränen mischen
und in den Sonnenstrahlen
die dir Wärme schenken
göttliche Geistkraft wohnt in einer Umarmung
und in zärtlicher Begegnung
in heilenden Berührungen
und in tröstenden Händen
göttliche Geistkraft bewirke heute
die liebevollen Gespräche und versöhnenden Gesten
die Solidarität und den Einklang mit der Schöpfung
die zärtlichen Begegnungen und den Mut zum Leben im Jetzt
klaus.heidegger … 20. Mai 2021