Missgebildetes Fohlen: Ein provozierend auffälliges Kunstwerk
Die Skulptur der belgischen Künstlerin Berlinde De Bryckere trägt den Titel „Honte“, was im Deutschen „Scham“ bedeutet. Auf einem hölzernen Gestell, das wie ein Opfertisch bzw. wie ein Altar wirkt, beides ist wohl intendiert, liegt ein totes Fohlen. Die Skulptur sieht aus, als wäre sie ein echtes Tierpräparat. Das junge Tier versteckt seinen Kopf mit den Vorderläufen so wie ein Mensch, der das gebeugte Haupt versucht, mit Händen und Armen zu verstecken. Im Hintergrund stehen die inzwischen wohl nie mehr benützten Beichtstühle der Haller Jesuitenkirche. So wird die Skulptur selbst Teil des Kirchenraumes. Der Kopf des Fohlens ist ostseitig – also in Richtung des Altarraumes – ausgerichtet, dorthin, wo Erlösungsrituale praktiziert wurden. Die Künstlerin selbst sieht ihre Objekte immer in Beziehung mit dem Raum, in dem sie ausgestellt werden. So passen Kunstwerk und Raum in sich zusammen und stehen in einem Dialog. Die tiefere Bedeutsamkeit dieses Kunstwerks erschlösse sich wohl nicht in dieser Deutlichkeit, stünde es in irgendeinem Museum dieser Welt.
Schmerzhafte Vulnerabilität
Meine erste innere Reaktion zu diesem Kunstwerk war das Gefühl, dass ich diesem Fohlen sagen möchte. „Du musst dich nicht schämen, weil du nicht so groß und stark bist, weil du eine andere Form hast als die anderen Fohlen, aus denen starke Rennpferde werden, die mit Stolz geritten und ausgeführt werden. Deswegen brauchst du auch nicht den Beichtstuhl hinter dir, sondern die erlösenden Worte des Evangeliums, die lauten: Ich nehme die Schwachheit an! Selig sind die Traurigen, denn sie werden getröstet werden!“
Doch durfte dieses Fohlen überhaupt leben oder war es totgeboren? Ist es nicht so wie vieles, auch in unserem eigenen Leben, das nie zum Leben geweckt wird?
Das ausgestopfte Tier im braunen Fellkleid passt sich an die Brauntöne der Kirchenbänke und der Beichtstühle an. Es gehört sozusagen in die Kirche, so wie Leid und Schmerz in der Kirche ihren Platz haben, nicht weil die Kirche masochistisch wäre, sondern weil sie Schmerz und Leid ernst nehmen, um sie überwinden zu können, weil dir Kirche einen Weg anbietet, wie ein lustvolles Leben gelingen könnte. Nie dürfen Gläubige den Schmerz anbeten, sondern seine Überwindung. Das gilt auch für den Tod Jesu Christi, der in dem überdimensionalen Kreuz in der Jesuitenkirche so drastisch dargestellt wird. Ja, Jesus wurde auch beschämt, er wurde bespuckt, ihm wurden die Kleider vom Leib gerissen, er wurde verspottet und starb letztlich als Gespött der Mächtigen am Kreuz. Er wurde zum „Lamm Gottes“, das für die Künstlerin die Vorlage war für das totgeborene Fohlen.
Beichte und das Sakrament der Buße
Petrus Canisius hat sich als Gegenreformator für die Verteidigung der sieben Sakramente stark gemacht. Während Martin Luther nur Taufe und Abendmahl als Sakramente gelten ließ, war gerade für die katholische Kirche das Sakrament der Buße sehr wichtig. Heute hat es wohl in seiner klassisch-traditionellen Form der Beichte im Beichtstuhl seine Bedeutsamkeit fast völlig verloren. Die Beichtstühle bleiben leer. Das soll kein Klagen sein, sondern den Blick öffnen für andere, vielleicht authentischere Orte und Riten der Versöhnung. Das Sakrament der Buße kann eine Aussprache zwischen Freunden oder Eheleuten sein, die sich eingestehen, manches falsch gemacht zu haben und sich zusichern, mit kleinen Zeichen wieder neu aufeinander zuzugehen. Nie und nimmer dürfen Buße und Beichte, in welcher Form auch immer, in Beschämungen enden. Ein Opfer darf es nie und nimmer mehr geben, in keiner Beziehung und in keiner der vielen Formen und Orte menschlichen Zusammenlebens.
Ambivalenter Charakter der Scham
Scham kann zur Reue führen, wenn eine Person merkt, dass sie etwas falsch gemacht hat, dass sie sich schuldig gemacht und diese Schuld auch einbekennen möchte. Scham kann aber auch dazu führen, dass man sich verkriecht aus Angst vor der eigenen Schwäche, aus Angst, Leistungsvorgaben nicht zu entsprechen, aus Angst, den Maßstäben anderer Menschen oder der Gesellschaft nicht zu genügen. Es gibt in Beziehungen sowie im größeren sozio-kulturellen Kontext und auch in der Politik so viele Muster und Handlungsweisen, mit denen andere beschämt werden. Beschämung ist eine äußerst subtile Form der Machtausübung, die die Seelen von Menschen krank machen kann. Da werden andere bloßgestellt. Beschämung geschieht vor allem auch im sexuellen Bereich. Sie schlägt sich dann nieder in sexistischen Strukturen. Das menschliche Grunddilemma von Scham finden wir bereits ganz am Beginn der biblischen Geschichte im Mythos von Adam und Eva. Es heißt dort, dass sie sich schämten und selbst vor Gott sich verstecken wollten. Sie schämten sich ihres eigenen Nacktseins, das heißt auch ihrer eigenen Sexualität, und begannen das Versteckspiel, das nicht zur Einheit, sondern zu Trennungen führt.
Von der Künstlerin Berlinde De Bryckere steht noch eine weitere Skulptur in Hall im Rahmen der Petrus-Canisius-Ausstellung. Sie greift diese Thematik der Verletzlichkeit auch wieder auf. Aber darüber in einem anderen Text.
Klaus Heidegger, 25.6.2021
Scham
ich verstecke mein Gesicht
damit du meine Tränen nicht siehst
damit du meine Angst nicht erkennst
damit du meiner Verletzlichkeit nicht gewahr wirst
hinter einer Maske
die ich nicht bin
ich verstecke meine Gefühle
damit ich nicht lächerlich wirke
damit ich nicht wieder verletzt werde
damit alte Wunden nicht tiefer werden
hinter einer Mauer
die mir das Leben nimmt
ich verstecke meine Nacktheit
weil ich dir nicht genüge
weil ich dir nicht gefalle
weil ich nicht sein kann der ich bin
hinter den alltäglichen Beschäftigungen
die das wirklich Wesentliche verdrängen
ich warte auf Worte
die nicht mehr beschämen
ich warte auf Berührungen
die Ängste lösen
ich warte auf Nähe
die Versteckspiele beendet
klaus … 26.5.2021