Politischer Islam und politisches Christentum

Jede Religion ist in sich politisch und kann gar nicht anders. Fragwürdig und in sich widersprüchlich ist daher schon das Framing vom „politischen Islam“. Würde man vom „politischen Islamismus“ sprechen, so wäre es exakter, wenngleich dies eine tautologische Konstruktion wäre. Schreibt und spricht man vom „politischen Islam“, so hat dies zum einen eine diskriminierende Wirkung. Der Islam wird als solcher in Verruf gebracht und gerät unter Generalverdacht. Die Unterscheidung von Islam und Islamismus fällt. Damit aber wird der berechtigten Sache, Islam und Islamismus auseinander zu halten, weil letzterer tatsächlich eine Gefahr in sich birgt, nicht gedient. Zum anderen aber ist es theologischer Unsinn, Religion von Politik zu trennen. Jede Religion kann gar nicht anders, als auch politisch zu sein.

Jede Religion, die das in ihr steckende Liebesgebot ernst nimmt und Frieden und Gerechtigkeit als Wesensmitte betrachtet, wird „politisch“ sein. Religion darf nie ein Rückzug in kirchliche Räume und Gebetshäuser sein. Insofern ist auch das Christentum politisch. Wenn eine Religion versuchen würde, nicht politisch zu sein, so wäre sie doch zumindest indirekt politisch, weil sie bestehende Strukturen und politische Vorgänge einfach zulassen und damit stabilisieren würde. Dies gilt alles nicht nur für den Islam. Wir könnten zynisch nachfragen: Wird es bald eine Landkarte über „politisches Christentum“ geben, eine Abhandlung über die Tausenden Orte hierzulande, wo Glaube im Einsatz für die Schwächsten gelebt wird? Werden kirchliche Einrichtungen darauf markiert werden, wenn sie eine menschenrechtswidrige Asylpolitik kritisieren? Zum Glück für die Kinder ist eine Katholische Jungschar in ihrem Einsatz für die Kinderrechte und der entwicklungspolitischen Arbeit der Dreikönigsaktion „politisch“. Zum Glück für die Frauen gibt es eine Katholische Frauenbewegung und ihr politisches Engagement zur Stärkung der Rechte der Frauen hierzulande und weltweit mit ihren entwicklungspolitischen Projekten. Zum Glück der Arbeitenden und Arbeitslosen gibt es eine Katholische Arbeitnehmerbewegung, die sich für die Sonntagsruhe oder gegen die Kürzung von Arbeitslosengeldern stark macht. Zum Glück für die Männer gibt es eine Katholische Männerbewegung, die für eine gendergerechte Verteilung von Haus- und Kinderarbeit eintritt. Zum Glück für die Armen und Notleidenden gibt es eine Caritas und eine Diakonie und ihre sozialpolitisches Engagements, die auch Strukturen und Systeme hinterfragt, die Armut und Ausgrenzung generieren. Zum Glück für das Ökosystem gibt es einen Papst Franziskus, der uns gerade erneut auffordert, viel entschiedener für die Rettung des Planeten aufzutreten.

Was unsere Welt braucht, ist ein kritisches Zusammenspiel von staatlich-politischen und demokratisch legitimierten Einrichtungen einerseits und Nichtregierungsorganisationen wie den Kirchen und Glaubensgemeinschaften – nie aber ein Ausspielen oder Gegeneinander. „Vollgasaktionen“ gegen die katholische Kirche oder ein undifferenziertes Islambashing mit dem Wortkonstrukt vom „politischen Islam“ helfen unserer Gesellschaft nicht weiter. Nicht hilfreich ist es aber auch zu verschweigen und zu verdrängen, wenn unter einem religiösen Etikett oder Vorwand menschenrechtswidrige und demokratiefeindliche Einrichtungen agieren. Vielleicht hilft die aktuelle Diskussion über die Islamlandkarte zumindest genauer hinzuschauen und Differenzierungen vorzunehmen und dabei auch die Werte von einem politischen Islam und einem politischen Christentum schätzen zu lernen, welche die Welt friedlicher und gerechter machen können.

Klaus Heidegger
Vorsitzender der Katholischen Aktion der Diözese Innsbruck

Juni 2021

 

Kommentare

  1. Lieber Klaus! Wunderbar geschrieben und formuliert! Danke für dein Engagement und deine Kunstfertigkeit, komplexe Sachverhalte differenziert zu betrachten und aufzulösen! Toll!
    Helmut

  2. Gerade in einer Regierungsfunktion wie die einer Integrationsministerin sollte das Auseinanderhalten der Begriffe selbstverständlich sein. Das Wissen über „den Islam“ ist bei uns so von Vorurteilen voll, dass es schon dadurch schwierig ist, mit Mitmenschen darüber zu sprechen bzw. zu diskutieren.
    DANKE für die wichtige und gute Erklärung! Sie sollte in den Medien mehr verbreitet werden.

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