gefesselt

seht den Menschen
die Hände gefesselt
hinten am Rücken
mit dicken Schnüren

wie Jesus
damals vor Pilatus
wie viele gefesselt noch heute
eingesperrt in Kerkern

wie wir selbst oft auch
gefesselt von Ängsten
gefesselt von Abhängigkeiten
gefesselt durch Unversöhntheiten

Jesus bräuchte dich
um Fesseln zu lösen
und du Gefesselter
wer löst die deinen?

achtsam-mutige Zuwendung
wird Stricke lösen
liebevoll-zärtliche Blicke
können Knoten entwirren
seht die Fesseln der Menschen

klaus.heidegger, 23.6.2021

 

ECCE HOMO – Teil 1

Im Rahmen der Ausstellung „Gebt mir Bilder!“ zum 500. Geburtstag des Diözesanpatrons Petrus Canisius steht im Innsbrucker Dom eine lebensgroße männliche Figur mit dem Titel „ECCE HOMO“. Der Name weist direkt auf die Szene aus der Leidensgeschichte hin, wo Pilatus nach der Verhaftung, Geißelung und Dornenkrönung Jesus der johlenden Menge mit den Worten präsentiert: „Ecce homo! Seht den Menschen!“ Seit Beginn der Ausstellung Anfang Mai war ich nun schon mehrmals dort, alleine oder mit meinen Schülerinnen und Schülern. Das Werk des britischen Künstlers berührt in der Tiefe der Seele und ist wie ein Schlüssel, um die wesentlichsten Fragen unseres Glaubens anzusprechen. Der Kurator der Ausstellung hat den Ort, an dem diese Figur jetzt noch bis 30. September stehen wird, bewusst gewählt. Rechts oberhalb ist eine Büste von Petrus Canisius. Er zeigt mit offener Hand – nicht mit Zeigefinger – auf den Gefesselten. Sein Rücken und die gefesselten Hände sind in der Kirchenraum-Optik dem Volk zugewandt. Alle sind herausgefordert zu überlegen: Bin ich eine Person, die fesselt? Bin ich eine Person, die Fesseln lösen möchte? Oder: Wo bin ich selbst auch gefesselt? Wer ist es, der meine eigenen Fesseln lösen könnte. In diesen Fesselungsdramen sind wir stets aufeinander angewiesen. Fesseln lösen funktioniert nicht alleine.

klaus.heidegger