Im Talboden liegt der Reif einer klaren Herbstnacht auf den Gräsern und abgefallenen Blättern. Ein Sonntagmorgen mitten im Oktober. Abschiednehmen gehört zu den Aufbrüchen und gehört zum Unterwegssein. Ich habe noch Blumen auf das Grab jener gelegt, die mir im Herzen geblieben sind, und eine Kerze angezündet. Und dann geht es auf die andere Innseite bei Prutz. Um diese Jahreszeit sind keine anderen Radfahrer unterwegs. Auf der Via Claudia Augusta, dem berühmten Fernradweg quer durch Tirol und Südtirol bis zur Adria, ist es ruhig geworden in dieser Jahreszeit. Ein Schwan mit seinen Küken schwimmt friedlich in den Innauen bei der Pontlatzer Brücke. Reif liegt auf den alten Brücken-Holzbrettern und ich liege unfreiwillig wie ein Käfer mit dem Rücken am Boden. Nichts ist passiert außer vielleicht einer Blessur am … Weiter geht es dem hier augestauten Inn entlang. Hellgolden leuchten nun die Lechtaler Alpen im Süden. Selbst die Augsburger Hütte unterhalb der Parseier Spitze lässt sich klar erkennen. Die Überlegung, doch mit dem Zug zurück zu fahren, lasse ich fallen und der Bahnhof in Landeck-Zams bleibt rechts liegen. Leichter Rückenwind und ein wunderbares Herbstwetter sind zu verlockend. Auf dem einsamen Radweg geht es weiter, sehe zuerst die Kronburg majestätisch auf einem Kegel über dem Tal, dann die mächtige Pyramide des Tschirgant. Irgendwo im Irgendwo gibt es antike Reste der alten Römerstraße mit Fahrspuren. Kaiser Augustus ließ die Straße für Eroberungsgelüste ausbauen. Die Welteneroberer sind heute auf der anderen Talseite auf der Autobahn, wo der Lärm nie versiegt. Über den kleinen Ortschaften hängen grau-braune Smogwolken vom Heizen. Es ist Inversionswetterlage – unten kälter als in der Höhe und so bleiben die Emissionen am Boden. Erst bei Roppen bin ich in der Sonne. Wunderschön schlängelt sich der Radweg durch die Wälder am Talboden, die ihre Ursprünglichkeit nie verloren haben. Kühe grasen auf Weiden; kleine Weiler sind im Abseits jeder Hektik . Bei Haiming geht es durch das Herz des Tiroler Apfelanbaus und dann öffnet sich bei Mötz das Tal. Das Wettersteingebirge ist in strahlendes Sonnenlicht getaucht und hebt sich vom Tiefblau des Himmels ab. Bei Stams nehme ich mir heute Zeit für die Hängebrücke, die dort auf 100 Meter-Länge den Inn überspannt. Während ich die schwankende Brücke über den Inn mit seinem kräftigen grünen Wasser gehe, sinniere ich über Brücken, die abgebrochen wurden, und über Sehnsuchtsbrücken zwischen Traum und Wirklichkeit. Mehr gedanken- als landschaftsversunken spule ich dann die nächsten 40 Kilometer bis zu meinem Ziel ab. Manchmal ist es, als hätte ich beim Radfahren das Gefühl für Müdigkeit, für Hunger und Durst verloren – vielleicht weil andere Gefühle und Träume viel stärker sind.