Es ist der 1. November. Allerheiligen. Das Wetter passt zum Tag. Regentropfen fallen wie Tränen vom Himmel. Ich bremse mit dem Rad ab, um ein wenig an jenem Ort zu verweilen, an dem sich Geschichte verdichtet. Für mich ist es wie ein einsames Gedenken. An Sommertagen passieren hier an einem Tag oft Hunderte Radreisende auf dem Fernradweg Via Claudia Augusta die denkmalgeschützte Eisenbogenbrücke, die bereits 1899 errichtet worden ist. Heute – im Regen und in der Kälte eines Novembertages – bin ich allein. Der aufgestaute Inn hat eine tiefgrüne Farbe. Das grüne Eisen der Brücke korrespondiert mit der Farbe des Flusses. Die Lärchen am Ufer und das Gras in der Au leuchten trotz Nebel und Regen kräftig golden. Zwei weiße Schwäne mit ihren schwarzen Küken schwimmen im Wasser, das hier ruhig wie ein See ist.
Zweimal fanden an dieser Engstelle des Inntales entscheidende Schlachten statt. Die Sieger sprechen von Siegen und die Sieger wurden zu Helden stilisiert. Die Opfer waren jeweils Männer, die in den Armeen bayrischer Kriegsherren dienen mussten. Die Soldaten waren Männer mit Familien, mit Ehepartnerinnen, mit Kindern, mit Eltern – nun wurden sie erschlagen oder erschossen. 1703 war es im Spanischen Erbfolgekrieg. Die Gegner wurden unter Steinlawinen begraben oder von auf den Hängen postierten Schützen erschossen. Und wieder waren es 1809 bayrische Truppen, die bei den Napoleonischen Kriegen zwischen Prutz und der Pontlatzer Brücke zunächst in einen Hinterhalt gelockt wurden, um dann in einer Schlacht in die Niederlage geführt zu werden. Haben sie dann freiwillig die Waffen niedergelegt. Wurden sie ermordet? Die religiöse Legitimation für kriegerisches Tun wird auf dem Denkmal aus dem Jahr 1903 gleich mitgeliefert. Am gemauerten Steinsockel des Denkmals, auf dem ein monumentaler Bronzeadler ruht, ist ein Relief der Madonna mit dem Kind. Dieses Kind sprach dann, als es zum Mann wurde, jene Worte, die an diesem Festtag von Allerheiligen in allen Kirchen gelesen werden: „Selig, die keine Gewalt anwenden.“ Die knallrote Informationstafel daneben zeigt einen Tiroler Schützen, der mit dem Gewehrkolben einen am Boden liegenden feindlichen Soldaten erschlägt. In der Nähe – dort wo 1809 die Schlacht zwischen den Tiroler Schützen und den Bayern war – ist die Tullen-Kapelle mit einem Bild der Mutter Gottes, die sich liebevoll einem verwundeten oder sterbenden Krieger entgegen neigt. Was ist wohl ihre Botschaft? Ich hätte gerne eine Kerze bei mir. Ich würde sie anzünden für die Opfer der unsinnigen Kriege – egal ob bayrisch oder tirolerisch.
Bleibend in mir ist die Erinnerung an einen Ausflug als Volksschulkind. Damals hing auch noch ein Andreas-Hofer-Bild im Klassenzimmer. Der Volksschullehrer in der 4. Klasse, der wenige Meter entfernt von der Tullner-Kapelle im Ortsteil Entbruck wohnte, erzählte uns Knirpsen vor der Kapelle vom Heldenmut der Tiroler Schützen, wie sie tapfer die feindlichen Soldaten erschossen oder erschlugen. Vielleicht haben mich die Erzählungen von solchen Grausamkeiten später zum Pazifisten gemacht.
Beim Pontlatzer Denkmal wird heute von den Tiroler Schützenkompanien eine andere Dimension des Schützens aufgezeigt, die ihrem neuen Leitbild entspricht. Die Jungschützen haben 70 Bäume für einen klimafitten Bergwald gepflanzt. Damit machen sie sichtbar, was es heute zu schützen gilt: Die Wälder, die im Stress der Folgen der Erderhitzung sind, oder die verschwindende Biodiversität.
Was sich allerdings drei Kilometer weiter am Ortseingang von Prutz abspielt, hat mit Klimaschutz nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Im September 2021 fand der Spatenstich für ein 32 Millionen Euro teures Straßenprojekt statt. Eine Unterführung und ein Tunnel werden gebaut. Der Verkehr an der Reschenstraße und hinein ins Kaunertal soll besser fließen können. Die Schützen standen stramm, als der Landeshauptmann anlässlich von diesem Festakt durch Prutz marschierte. Wollten die Schützen mit ihren grünen Lodenjacken nicht die Umwelt schützen? Auch vor noch mehr Verkehr, noch mehr Emissionen, noch mehr Lärm? Vielleicht treffe ich sie bei der nächsten Fridays-for-Future-Demonstration; dann würde ich sie danach fragen.
Klaus Heidegger, 1.11.2021