Es dauert nur eine halbe Stunde, um mit dem Mountainbike vom Zentrum weg auf der Höhe von Hungerburg und Gramartboden über die Smogglocke zu kommen. In der Inversionswetterlage hält sich der zähe Nebel unten und es ist befreiend, als ich ihn so plötzlich an der Schwelle zwischen Nacht und Tag durchbreche. Jetzt traue ich mich wieder kräftiger zu atmen. Zugleich bleibt aber noch die Lärmglocke hörbar. Sie ist unsichtbar. Es sind die Tausenden Autos, die mit ihren Motoren und den Rollgeräuschen die Ruhe nehmen. Jeden Tag. Rund um die Uhr. Am Almweg zur Umbrüggler Alm bin ich zu dieser Jahreszeit und um diese Tageszeit noch allein. Ich begrüße auf der Terrasse der architektonisch so gelungenen Almhütte die Sonne, die beim Glungezer über den gegenüberliegenden Tuxer Alpen aufgeht. An den Bäumchen am Rand der Alm leuchten weihnachtliche Lichterketten. Gedankenversunken geht es weiter hinauf der Höttinger Alm entgegen. Der Weg zur Rumer Alm ist wegen Holzarbeiten gesperrt. Also hinunter zur Arzler Alm und von dort immer oberhalb des Nebels über das Romedikirchl nach Absam. Hier will meine Seele daheim sein. …
Den Rückweg wähle ich nun südseitig hinauf nach Tulfes. Am Ortseingang von Rinn steht wie ein Heiliger eine Statue von Josef Speckbacher. Der Weg zur Rinner Alm wird bald eine Rodelbahn werden. Am Wochenende sind keine Waldarbeiten und das Fahrverbot kann ignoriert werden. Ab einer bestimmten Höhe können die Sinne wieder leben. Den Wald riechen, den Flügelschlag eines Raubvogels hören, das Wolkenspiel sehen und bei einer kurzen Pause das nasse Moos am Wegrand fühlen. Heute sind erst kurz vor der geschlossenen Alm ein paar Schneereste. Dann geht es hinüber zur Aldranser Alm und Sistranser Alm. Man könnte das Gefühl als Almenflow bezeichnen. Manchmal sind die Almwege nun leicht schnee- und eisbedeckt. Nur letztere Alm ist geöffnet. Auf meiner Fahrt zu den sieben Almen ist mir heute aber kein einziger Mountainbiker begegnet.
Mein Körper fühlt sich leicht an. Ich atme den Duft der Wälder. Es ist, als schützten mich die Bäume. Die Gefühle schaukeln hoch zwischen Freude und Schmerz. Wolken ziehen auf. Der Nebel über der Stadt ist verschwunden. Geblieben ist über ihr die grau-braune Smogschicht, die so giftig wirkt, dass ich da eigentlich nicht wieder hinein möchte. Glücklich sind jene, die sich oberhalb in den Ortschaften des Mittelgebirges ansiedeln konnten – zugleich sind unter ihnen wohl auch jene, die mit ihren Autos täglich hinauf- und hinunterpendeln und das Leben da unten vergiften. Ich blicke auf die Klinik unten im Häusermeer und denke an die Ärzteschaft und das Pflegepersonal, das sich um die Covid-Erkrankten kümmert, aber auch an die Patientinnen und Patienten. Die Zahlen sind erschreckend, weil hinter jeder dieser Zahl ein menschliches Schicksal steht. Österreichweit fast 50 Tote an einem Tag, gestorben auch als Folge einer Covid-Erkrankung. Über 500 Covid-Erkrankte liegen auf Intensivstationen. Mit weit über 10.000 gibt es eine Höchstzahl an Neuinfektionen. In der Schule habe ich in den vergangenen Monaten mit den Schülerinnen und Schülern öfters die Fragen aufgegriffen, die mit dieser Pandemie zusammenhängen, bin mit wissenschaftlich fundierten Fragen den Fakes begegnet – was sogar zu einer wüsten Anklage seitens eines Anwaltes führte. Die moralische Impfpflicht zählt zur Materie der christlichen Nächstenliebe. Ich konnte mit der Klasse, in der ich Klassenvorstand war, noch vor kurzem auf Projektwoche in einen Nationalpark fahren – die erste Klasse, die komplett geimpft war. Ein gutes Gefühl! Ja, es stimmt, dass Impfen nur eine Maßnahme ist – aber doch so wesentlich. Und für uns alle würde zudem gelten: Ein Lebensstil, der weniger die Umwelt schädigt, wo es weniger Emissionen gibt – weniger giftige Abgase und weniger Lärm. Wir brauchen alle Kräfte, um aus der Pandemie und ihren destruktiven Folgen herauszukommen. Unter der lärmenden Autobahn durch tauche ich ein in die Stadt und atme nun reservierter. Bei der Weltklimakonferenz wurde gerade beschlossen, man werde sich verpflichten, dass die Erderwärmung nicht über 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit steigen darf. Im Mobilitätsverhalten der Masse spiegelt sich diese Verpflichtung nicht wider, auch wenn zum Glück die Benzin- und Dieselpreise gestiegen sind. Vom Gatsch der Almwege angespritzt geht es nun in die Stadt. Und dann beim Einkaufen. Zwischen den Bergen von Obst und Gemüse aus spanischem Anbau entdecke ich bestenfalls noch Jungzwiebel aus heimischer Produktion. Die frisch montierten Weihnachtsdekorationen allerorten und entstehenden Adventmärkte widersprechen meinen Gefühlen. Wenn Weihnachten käme, wie ich es mir wünsche, dann wäre es ein Leben ohne Ausbeutung und Zerstörung im Großen und mit viel Zuwendung und Zärtlichkeit in den eigenen kleinen Lebensbereichen.