Es waren einmal zwei Menschen. Sie lebten an zwei unterschiedlichen Ufern. Beide waren sie beschäftigt mit ihren vielen Dingen und spürten bei diesen Beschäftigungen oft nicht mehr, was wirklich zählt im Leben, ganz tief drinnen, was unerfüllt blieb, was blieb ungelebt. Müde von den vielen Dingen setzten sich beide immer wieder zum Sonnenuntergang an das Ufer des großen Flusses. Unbemerkt saßen sie jeweils an ihrem je eigenen Ufer. Im Sommer spiegelte sich das Rot der untergehenden Sonne in den zarten Wellen des Flusses, im Winter, wenn die Tage kurz waren, spielten die Wellen mit dem Mondlicht. So lebten sie viele Jahre, beide an ihren eigenen Ufern. Der Fluss kannte inzwischen Tausende Geschichten der beiden und konnte ein Meer damit füllen. Viele Tränen waren darin auch aufgehoben. An einem der langen Abende, als eine der langen Nächte begann, sahen beide sich an dem je anderen Ufer sitzen. Noch nie hatten sie sich wahrgenommen, die ganzen vielen Jahre zuvor nicht. Zu viele waren es schon. Aber heute, heute sollte es anders sein. Da war doch eine schmale Brücke über die Wasser. Warum nicht? Vielleicht doch? Die Brücke war eher ein Steg zum Balancieren. Kein Geländer war da. Und dennoch. Sie wagten beide die Schritte. In der Mitte hatten sie sich getroffen. So hockten sie nun auf den Brettern und ließen die Füße über dem Fluss baumeln. Und redeten. Und diskutierten über Gott in der Welt. Und hielten sich die Hände. Und wärmten sich mit ihrer Nähe in der Kälte der Nacht – bis das Rot der Sonne sich in der aufgehenden Sonne spiegelte. Seelenverwandte waren sie. Ein neuer Tag hatte begonnen. Es wurde wirklich Tag. Von da an beschlossen beide, sich in ihren Welten – jenseits und diesseits – immer wieder zu besuchen. Sie zeigten sich ihr Leben, sie waren neugierig und lernten voneinander, sie schätzten das Leben und freuten sich aneinander. Sie waren angekommen im ganzen Leben. Advent.
Klaus Heidegger
(Bild: Karwendelbrücke, darüber geht die Karwendelbahn, darunter Menschen zu Fuß oder mit dem Rad)