In diesen schrecklichen Kriegstagen verstummen die pazifistischen Stimmen. Im Fernsehen erklären Militärexperten in Uniform das Geschehen, das sie wohl am besten verstehen, weil sie ebendieses Handwerk auch lernten. Wo sind die Friedensforscherinnen und Friedensforscher geblieben? Warum werden nicht auch jene in die Studios eingeladen, die verkörpern vor allem jene Botschaft, die so wichtig wäre: Beendet den Krieg! Hört auf mit dem Töten! Erhebt nicht die Waffen und baut auf die Kraft der Gewaltfreiheit.
Offensichtlich sitzt der Haupttäter im Kreml und dirigiert vom Schreibtisch aus wie ein Cäsar die kriegerischen Truppen und entscheidet selbstherrlich über Krieg und Frieden und scheut sich auch nicht, mit den schlimmsten aller Waffen zu drohen. Zu Tätern werden die russischen Truppen, die gegen jedes Völkerrecht in einen souveränen Staat eingedrungen sind. Doch ist Gegengewalt der Überfallenen ein Weg aus der Gewalt der Täter? Ist angesichts dieser massiven Gewalt der russischen Truppenverbände ein gewaltsamer Widerstand und Abwehrkampf die richtige Antwort? Wird er nicht zu einem entsetzlichen Blutbad führen, wo auf beiden Seiten getötet und gestorben wird und die zivile Infrastruktur zerbombt wird? Ist angesichts der Übermacht der russischen Armee ein militärischer Widerstand nicht ein aussichtsloses Unterfangen, in dem sinnlos Abertausende sterben werden? Führt solcher Abwehrkampf nicht noch mehr die Welt an den Rand eines viel viel größeren Krieg.
Ja zum militärischen Widerstand sagt der ukrainische Präsident und verkündet das Kriegsrecht und ordnet eine Generalmobilmachung an. Männer dürfen nicht mehr das Land verlassen und müssen zur bewaffneten Verteidigung ihrer Heimat bereit sein. Frauen und Kinder fliehen in großer Zahl. Hierzulande haben wir einen Nationalratspräsidenten, der zu Heldentaten zur Verteidigung der Heimat auffordert. Ein Mann sprengt eine Brücke über einen ukrainischen Fluss, um den russischen Vormarsch zu stoppen, und sich damit gleich auch in die Luft – als Held wird er gefeiert.
Ja zum militärischen Widerstand sagen Abertausende Menschen in der Ukraine und beginnen Molotow-Cocktails zu basteln und melden sich in den Rekrutierungsstellen. Die Brandbomben – werden sie in die Löcher von Panzer fliegen, wo Angreifer dann einen Feuertod sterben? Wird es zum Häuserkampf kommen und werden damit jene Bilder auch in europäischen Städten zu sehen sein, die wir kennen aus dem syrischen Bürgerkrieg?
Ja zum militärischen Widerstand sagen nun auch immer mehr Staatenlenker im Westen und lassen Stingerraketen, Artilleriegeschütze und andere Waffen in die Ukraine liefern.
Hat das ukrainische Volk in den Jahren 2004 in der Orangen Revolution nicht gelernt, wie erfolgreich ein strategisch geführter ziviler Widerstand sein kann? Damals wurden lehrbuchmäßig die Instrumentarien und Taktiken gelebt, die zum Sturz eines unrechtmäßigen Regimes führen können, ohne dass irgendein Mensch stirbt. Es ist noch nicht so lange her, da wurde daran erinnert, wie vor 30 Jahren die Berliner Mauer fiel und wie die Völker der ehemaligen Sowjetrepubliken neue Demokratien aufbauten. Es ging ohne Gewalt.
Der Krieg ist in allen Ländern wie ein Aufwind für die militärischen Aufrüstungen. Deutschland plant neue Milliarden in die Armee zu stecken. Auch der heimische Bundeskanzler kündigt an, nun mehr Mittel für das Bundesheer zur Verfügung stellen zu wollen – und die Grünen schweigen dazu. Altkanzler Vranitzky spricht von der Notwendigkeit einer starken Europäischen Verteidigungsarmee.
Und was ist mit der christlichen Botschaft der Gewaltfreiheit und der Feindesliebe. Ist es nur ein Programm für friedliche Zeiten und gilt nicht in den Stunden des Krieges?
Die Antwort der christlichen Kirchen in Europa ist tendenziell pazifistisch geprägt, jedoch auch nicht frei von Widersprüchen. Zwar wird Krieg eindeutig verurteilt und werden die nicht-militärischen Mittel wie Wirtschaftssanktionen begrüßt, allerdings gibt es manchmal auch eine zumindest implizite Bejahung des militärischen Widerstands der ukrainischen Armee und damit auch konsequenterweise eine Zustimmung zu den Waffenlieferungen. Eine ausdrückliche Ermutigung zu einem Verzicht auf militärischen Widerstand gibt es jedoch nirgends.
- Der Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz, Erzbischof Lackner, wünschte sich gleich zu Beginn der Invasion ein „Schweigen der Waffen“. Wörtlich sagte er: „Angesichts der jetzt dramatisch erfahrenen Zerbrechlichkeit des Friedens müssen sich Christen als Friedensstifter erweisen und bewähren … Bitte beten wir gemeinsam für ein Schweigen der Waffen und um einen gerechten Frieden in der Ukraine, in der ganzen Welt sowie in den Herzen der Menschen.“ (24.2.)
- Kardinal Jean-Claude Hollerich, Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) und Vizepräsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) meinte, die Aggressoren müssten verstehen, dass die Europäische Union solidarisch sei mit der Ukraine, „auch wenn wir nicht militärisch beistehen können“. „Das könnte ja einen Weltkrieg provozieren, das will niemand. Aber die Leute haben ein Recht, sich gegen den Aggressor zu wehren“, fügte Hollerich mit Blick auf Waffenlieferungen an die Ukraine hinzu. Auch Wirtschaftssanktionen seien sinnvoll. (27.2.2022)
- Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus kritisierte bei einer zentralen Friedensdemonstration in Berlin eindeutig die Kriegspolitik der „verlogenen und machtgierigen“ russischen Regierung und rief zugleich dazu auf, nicht in eine „Spirale des Hasses“ zu geraten: „Wir werden der kriegslüsternen Herrscherclique in Russland nicht das Geschenk machen, ihr Volk zu hassen. Wir werden das Spiel der Verfeindung nicht mitspielen“, sagte sie. Es gelte vielmehr, Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und ihren Nachbarländern zu zeigen – und auch mit jenen Menschen in Russland, die sich gegen den Krieg stellten.
Klaus Heidegger, 27.2.2022 – am 4. Kriegstag in der Ukraine