Später Nachmittag. Zwischen den Bergen ging gerade die Sonne unter. Sie zauberte einen goldenen Strahl in das tiefgrüne Wasser des Flusses. Der Pegelstand war so nieder, dass der Mann auf seiner unterbrochenen Fahrt von der Schule bis weit hinein in die Mitte des Flussbettes gehen konnte. Er hatte es auch nicht eilig am Beginn des Wochenendes. „Es sollte endlich einmal wieder regnen,“ dachte er sich. Der Lärm der Autobahn auf der anderen Flussseite erinnerte ihn wieder an die Treibhausgasemissionen, die Erderhitzung und die klimatischen Veränderungen, die mehr und mehr auch das Wetter verändern. Der Wind wehte aus dem Osten – wie immer um diese Zeit – und hatte bereits seine Winterkälte verloren. Eine Gruppe von Schwänen stand still im Wasser, das gemütlich dahinfloss. Er bückte sich und konnte so Aug in Aug mit den Schwänen sein. Seine Gedanken kreisten um den Krieg in der Ukraine. Die schrecklichen Bilder hatten sich in seinem Kopf festgesetzt. Sein Artikel, der gerade als Gastkommentar in einer renommierten österreichischen Zeitung erschienen war, war wie ein Kontrapunkt zur vorherrschenden Stimmung, man müsse den Aggressor mit allen militärischen Mitteln bekämpfen. Er war enttäuscht, dass selbst Bischöfe und kirchliche Vertreter nichts gegen diese Position deutlich gesagt hatten. Es schien, als würden sie schweigend zustimmen, dass der Westen Waffen in die Ukraine lieferte, dass „bis zum letzten Mann“ gekämpft wird und so die Flüchtlingswelle nur noch größer werden wird. Verspielt wie seine Gefühle warf der einsame Pazifist flache Steine in das Wasser, doch waren sie anders als seine Gefühlswelt und gingen gleich unter. In einigen Wochen wird das Wasser im Schwarzen Meer sein und damit die Hafenstädte umspülen, die heute umkämpft werden. Werden sie bis dann weitgehend zerstört sein? Plötzlich hörte er eine sanfte Stimme hinter sich. Sie redete ihn mit Namen an. Sie fragt ihn: „Warum wirkst du so traurig?“ Es muss ein Engel sein, dachte sich der Schwanenschauer und Steinchenwerfer. Engel kennen deinen Namen. Engel reden dich mit Namen an – ja, sie lieben es sogar, deinen Namen öfters auszusprechen. Engel fragen dich ehrlich nach deinem Wohlbefinden. Engel sind empathisch und sehen schon von Ferne, wie es dir geht. Engel schließlich wollen dir helfen. Nun saß er mit seinem Engel am Ufer, als hätten sie sich schon lange gekannt. Sie hatten zuvor wortlos mit den flachen Steinen einen Turm gebaut. Wie im Spiel. „Ich habe Angst“, sagte er dem Engel. „Wovor?“, fragte der Engel zurück. Und dann begann er zu erzählen. „Vor einiger Zeit …“ Nachdem er erzählt hatte, konnte er weinen und der Engel wischte ihm mit einem seiner Flügel die Tränen ab.
Freitag, 18.3.2022