Viele Berge hatte er bestiegen. Oft auf schmalen Graten zum Gipfel – oder über sie. Im Fels oder auf Eis, am Seil oder manchmal auch alleine. Das war früher. Seit kurzem ist es anders geworden. Eine Unsicherheit ist der Sicherheit von damals gewichen. Hat dies mit der Seele zu tun, die keinen Halt mehr findet im Sein seines Lebens? So war es auch gestern in den Ötztaler Alpen auf einem der hohen Skitourenberge. Während er auf seinen Freund wartete, der wieder einmal eine besondere Route wählte und dabei in einem steilen Hang seine Ski ausziehen musste, schloss er die Augen, hörte er den Gipfelwind und dachte an seinen Engel. Engel müssten nie Angst haben. Sie könnten einfach ihre Flügel ausbreiten und wie ein Paragleiter in die Tiefe schweben, dachte er sich. „Berg heil!“, sagte da eine bekannte Stimme neben dem am Gifpelkreuz Wartenden. „Berg heil!“, antwortete der Angesprochene und spürte schon den Engel ganz nahe. Da war ja nicht viel Platz. Ringsherum sausten die Wände hinunter. „Wie geht’s dir heute?“, fragte der Engel. Und wieder war es ein Gedicht, das die Stimmung des Bergsteigers einzufangen versuchte. Der Mann las es seinem Engel vor.
„Grat der Hoffnung
auf schmalem Grat
dem Grat der schmalen Hoffnung
dem Grat der Verzweiflung
abgrundtiefe Verzweiflung links
abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit rechts
nur der nächste Schritt zählt
und dann der nächste
und dann noch einer
einer nach dem andern
wie lange reicht die Kraft des Geistes?
so im Gleichgewicht bleiben
nicht zurück schauen
nur ein kleinwenig nach vorne schauen
nur der Augenblick zählt
die Angst hinunterdrücken
ohne den Zuspruch des Engels
es ginge nicht weiter
ohne seine Flügel
es wäre ein Sturz in die Tiefe
ist der Engel noch da?“
Klaus 20.3.2022, Frühlingsbeginn