„Was hältst du in deiner Hand fest umschlossen?“, fragte jemand hinter ihm. Diesmal war der Mann nicht mehr überrascht. Er erkannte sofort die Stimme. Er hatte sich bereits so auf einen seiner Lieblingsplätze am Fluss gesetzt, dass neben ihm noch ein großer Flussstein war, auf dem auch ein Gesprächspartner gut sitzen konnte. Abgesehen von seinem Engel hatte er niemanden, mit dem er einen Sonnenuntergang beobachten und über den Sinn des Lebens am Ende eines langen Arbeitstages hätte sinnieren können – und vielleicht sogar seine Hand mit der Hand einer anderen hätte verbinden können. Sein Handy war auch – wie meistens – eingeschalten, weil er doch – wie fast immer – darauf wartete, dass ein Anruf käme oder eine WhatsApp aufpoppte.
Es war sein Engel, der nun neben ihm Platz nahm, während die Sonne eine goldene Straße auf dem Wasser zu den beiden zauberte. Der Baum hinter ihnen hatte zarte Knospen. Vögel zwitscherten, wie sie nur im Frühling zwitschern, und die Flussmelodie war lauter als der Lärm der Autobahn hinter der Schutzwand. Der Mann zeigte seinem Engel, was er fest umschlossen hatte, so fest, dass dadurch Abdrücke auf der Handfläche waren. Es war ein kleiner Granitstein – ganz weiß. So weiß wie der Schnee, wo er den Stein aus einem ebenso weißen Felsblock gelöst hatte. „Soll ich ihn ins Wasser werfen?“, fragte der Mann nun seinen Engel, und begann gleich ungefragt zu erzählen, weil er bereits wusste, sein Engel war bereit, zum Zuhören. „Manchmal sind es kleine Griffe an besonderen Steinen, die es verhindern, dass ich ins Bodenlose falle. Dann aber könnte es umso schmerzlicher sein, wenn nun solcher Halt verschwände. Manchmal entdecke ich unter Millionen von Steinen und Bergen aus Stein einen ganz besonderen Stein – wie diesen – der einzigartig ist. Schau ihn dir an. Er funkelt sogar an manchen Stellen wie ein Kristall.“ Ich weiß, sagte der Engel verständnisvoll. Das hast du mir vor einer Woche gesagt. Du hast Angst, diesen so bedeutsamen Stein zu verlieren oder dass er dir weggenommen wird. Aber jetzt erzähl mir noch mehr von dir, sagte der Engel.“ Der Mann wusste, dass sein Engel Poesie schätzte. Ein Text war schon vorbereitet, da an diesem Tag ein Fest gefeiert wurde, das mit einer ganz besonderen Engelsbegegnung zu tun hat. Während die Sonne unterging und im Westen sich der Himmel rot färbte, fand der Mann den Mut, seinem Engel das Gedicht zum Fest Verkündigung vorzulesen. Es war sein Mutmachgedicht.
„verkündet wird heute
dass Kräfte des Himmels
stärker sein werden als jede Gewalt
verkündet wird zärtlich
dass engelgleiche Wesen
kräftiger sein werden als jede Resignation
verkündet wird liebevoll
dass göttlicher Segen
unaufhaltsam aufgeht in vielfach bedrohter Welt
verkündet wird mutig
dass widerständische Menschen
die Ohnmacht verjagen
verkündet wird lustvoll
dass Energien des Leibes
lebendig sein dürfen gegen jedes Verbot
verkündet wird tröstend
dass göttliche Gegenwärtigkeit
die Tränen im Heute trocknet
verkündet wird wieder und wieder
dass Gott will Mensch werden
in befreiend messianischem Handeln.“
Der Mann steckte seinen weißen Stein in die Hosentasche, während der Engel sich wieder auf den Weg machte.
Klaus, 25. März 2022, Hochfest Mariä Verkündigung