Er liebte die frühen Morgenstunden, am liebsten die Zeit, in der das Morgenlicht ganz zart der Nacht ihre Dunkelheit nimmt. Er liebte die Berge, die zur blauen Stunde besonders faszinierend waren. Noch leuchtete kein goldener Morgenstrahl auf die Bergspitzen rings um ihn herum. Die Frühlingssonne ließ noch ein weißes Band übrig, auf dem man vom Parkplatz bis zum Gipfel eines der Dreitausender gehen konnte. Noch eine andere Frau wartete im Auto auf jemanden, während er die Felle auf die Ski klebte und sich für den Aufstieg bereit machte. In einem anderen Auto kam ein Mann, der sein Auto neben die wartende Fahrerin parkte. Beide stiegen aus und umarmten sich lange und liebevoll.
Diese Szene begleitete ihn beim Aufstieg durch den schütteren Lärchenwald. Sie machte ihm deutlich bewusst, was ihm fehlte und wonach er sich sehnte: nach einer Freundschaft, in der Menschen sich liebevoll umarmen, weil sie sich mögen, in der sie sich umarmen, um ihre wechselseitige Zuneigung zu zeigen. Der kühle Fallwind löste Tränen in seinen Augen. Die Schneedecke war eisig hart gefroren. Schweigend und mit schnellem Schritt ging er hinein ins Tal, das mit einer steilen Rampe endet, durch das sich ein Bach zwängt. Die Szene der Umarmung am Parkplatze weckte Erinnerungen an Umarmungen in seinem Leben und während die Ski am Eis knirschten und die Harscheisen klapperten, bildeten sich wieder Verse in seinem Kopf. Er hätte sie am liebsten ins Gipfelbuch geschrieben und noch lieber hätte er sie einem Menschen vorgelesen, den er gerne mochte. „Aber ich bin doch da, sagte die Stimme neben ihm.“ Unerschrocken ließ er Engel neben ihm seine Füße über dem Abgrund der Nordwand baumeln. Der Mann, der wegen seiner verletzten Seele sehr ängstlich geworden war, dachte sich: „Engel müssen am Berg wohl nie Angst haben.“ Der Mann las dem Engel nun die Worte vor – oder besser – sprach sie mit Sehnsucht in die Welt hinein, die zu seinen Füßen lag.
„Umarmungen
umarmen
mit geschlossenen Augen
die Welt dreht sich
die Mitte gefunden
umarmen
sich Halt schenken
nicht in die Tiefe fallen
die Arme wie schützende Engelflügel erleben
umarmen
den Herzschlag spüren
Nähe und Wärme
spüren was zählt
umarmen
von der Oberfläche in die Tiefe des Seins
den Sinn des Lebens ertasten
begreifen was zählt
loslassen müssen
schwindlig sich fühlen
lachende und weinende Seele
Umarmung wirkt weiter
umarmen
mit Worten
mit Gedanken
Leben will leben.“
Nachdem der Engel dieses Gedicht gehört hatte, legte er liebevoll seine Flügel um den Mann, ganz lange. Er schloss die Augen, spürte für Augenblicke die Wärme des Engels in der Kühle des Berggipfels, und sah nicht, wie sich der Engel löste und hinunter in die Welt flog. Dort brauchten ihn viele Menschen – manche viel dringender.
Klaus … 28.3.2022