Der Aschermittwochgottesdienst an unserer Schule wurde ein Friedensgottesdienst. Eine Schülerin sang „Imagine“. Ein Popsong, der atheistisch interpretiert werden könnte, wurde zum Gebet für den Frieden. Vier Wochen später wurde an unserer Schule ein Video veröffentlicht, in dem Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit Musiklehrern „Imagine“ neu interpretierten und im Innenhof der Schule ein Friedenszeichen zur Musik von „Give Peace a Chance“ erstellten.
Wenn man „imagine“ als Begriff in eine digitale Suchmaschine eingibt, dann wird der Popsong von John Lennon ganz oben angezeigt. 1971 haben John Lennon und Yoko Ono ihren Protest gegen den Vietnamkrieg auf den Punkt gebracht. Die Botschaft gilt heute – vor allem mit Blick auf den Krieg in der Ukraine – nicht weniger als damals. Imagine ist die Hymne der Friedensbewegung. Während so viele Staatshymnen militärisches Heldentum in sich tragen, drückt „Imagine“ eine pazifistische Vision aus, die an die prophetischen Texte der heiligen Schriften erinnert.
„To imagine“ hat im Deutschen zwei Übersetzungsinhalte, die miteinander zu tun haben. Erstens bedeutet es, sich etwas vorzustellen – oder noch schöner – sich etwas auszumalen oder zu erträumen. „You may say, I’m a dreamer“, heißt es weiter unten in den Lyrics. In diesem Bedeutungsgehalt könnte „imagine“ beinhalten: Sich etwas in seine Phantasie zu holen, das die gegenwärtige Wirklichkeit sprengt – oder – um ein religiöses Grundvokabel ins Spiel zu bringen – das in die Transzendenz reicht und von ihr her genährt wird. Immanenz wird durchsättigt von Transzendenz. Zweitens, und da sind wir zutiefst in der Dimension des Religiösen, kann „to imagine something“ auch bedeuten: an etwas glauben. Glauben wiederum hat immer mit Vertrauen zu tun oder mit Etwas-für wahr-halten. Den Song von John Lennon könnten wir als „Glaubensbekenntnis“ bestimmen. Wenn Millionen Menschen heute angesichts der schrecklichen Kriegsbilder „Imagine“ singen und auf Anti-Kriegs-Tafeln schreiben, dann drücken sie ihren Glauben an die Möglichkeit des Friedens aus – an einen Frieden, der nicht mit Waffen geschaffen werden kann.
Nothing to kill or die for
Der vom Putin-Regime angeordnete Angriffskrieg auf die Ukraine, die wochenlangen Kampfhandlungen – es gibt nichts zu rechtfertigen. Die militärischen Übergriffe sind absolut zu verurteilen. Zugleich muss festgehalten werden: Die militärischen Verteidigungsanstrengungen der ukrainischen Armee und ukrainischer Kampfeinheiten und damit die massiven Waffenlieferungen aus dem Westen haben den Krieg angefeuert. Die Souveränität eines Landes steht nicht über dem Leben von Tausenden von Menschen. Selbstverteidigung steht nicht über dem Recht auf Leben. Kein Mensch darf in einen Krieg gezwungen werden. Mit dieser Aussage wird jede Generalmobilmachung infrage gestellt.
Indem die EU und die NATO bzw. EU- und NATO-Länder Kriegsgerät in die Ukraine liefern, machen sie sich zur Kriegspartei, befeuern sie den Krieg, tragen so nicht zur Rettung von Menschen und derer lebensnotwendigen Infrastruktur bei. Wenn nationalistische Kräfte im Süden der Ukraine mit Blick auf die russischen Angreifer sagen, unser Verteidigungswille ist so stark, dass selbst das Meer sich rot färben würde, wenn wir angegriffen würden, dann zeigt dies die Brutalität einer reziproken militärischen Verteidigung gegen einen übermächtigen Angreifer auf. Im Krieg gibt es nichts zu gewinnen, für beide Seiten nicht. Es wird immer Verlierer geben mit desaströsen Auswirkungen.
Der ukrainische Regierungschef Selenskyi fordert seit Wochen dazu auf, dass die NATO eine Flugverbotszone über der Ukraine errichten sollte. Für seine Reden und Ansprachen, oftmals als Videobotschaft in den Parlamenten europäischer Staaten oder internationaler Konferenzen eingespielt, bekommt er großen Zuspruch. Mit Blick auf die zerstörten Städte in der Ukraine und einer permanenten Prolongierung des Krieges, mit Blick auf die 4 Millionen Kriegsvertriebenen und vor allem auch mit Blick auf die drohende Eskalation bis hin zum Einsatz atomarer oder chemischer Waffen muss diese Strategie kritisch hinterfragt werden.
Livin‘ for today
John Lennon bringt es mit diesem Liedvers auf den Punkt. Es soll kein Festhalten an Vergangenem gelten, das hindert am Leben in Fülle, es soll keine Vertröstung mehr auf ein Später geben, wenn dies ein Leben im Hier und Jetzt behindert.
You may say I’m a dreamer, but I’m not the only one
Der Traum lautet, dass die Strategien der gewaltfreien Verteidigung eines Landes, dass Diplomatie, dass ziviler Widerstand und Sanktionsmaßnahmen die stärkeren Waffen sein werden, wenn sie massenhaft eingesetzt werden. Der Traum lautet, dass Soldaten ihre Waffen niederlegen, dass Kampfflugzeuge nicht mehr fliegen, dass Rüstungsindustrien lahmgelegt werden und Feinde sich die Hände reichen. Wer solches träumt – „imagine“! – wird gerne als Spinner abgetan, als realitätsferner Idealist oder – schlimmer noch – solchen Träumenden wird Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Die Kriegsbilder heute sind schrecklicher Beweis, wohin eine militärische Eskalation und das Ziehen der militärischen Karte führen.
Imagine there’s no heaven
Uns keinen “Himmel” vorstellen – das könnte missverständlich ausgelegt werden. Wenn John Lennon und Yoko Ono diese Worte getextet haben, wollten sie eine bestimmte Vorstellung von Himmel in Frage stellen: Erstens einen Himmel, der in einem Jenseits verortet ist und die Gegenwärtigkeit des Lebens geringachtet. Zweitens einen Himmel, für den es sich lohnte zu töten und zu sterben. Wenn “heaven” aber gleichzusetzen ist mit “Frieden für alle” – was die Hauptbotschaft von Lennon war, dann müssen wir uns im Gegenteil gerade diesen Himmel vorstellen und an diesen Himmel glauben.
And no religion, too
Kürzlich sagte mir ein Freund: Lennon sei Atheist gewesen, wenn er sich eine Welt ohne Religion herbeiwünscht. Mehr noch, Lennon sehe in der Religion letztlich einen wesentlichen Grund für die Kriege in der Welt. „Nein“, war meine Antwort: Lennon habe wiederum nur eine bestimmte Pervertierung von Religion kritisiert, eine Religion, die Kriege für heilig erklärt und Menschen nicht zum Frieden befähigt. Auch im Song „Give Peace a Chance“ greift Lennon das Narrativ von Ideologien auf, die zu Trennungen führen, statt zu einen. Um es auf den Punkt zu bringen: Für mich ist „Imagine“ eine zutiefst religiöse Hymne, weil sie letztlich zum wahren Kern der Religionen hinführt: Religionen, die nicht mehr trennen, sondern Menschen zusammenführen. Religionen, die nicht mehr vertrösten, sondern leben lassen. Vor allem aber Religionen, die den Gläubigen das Töten verbieten.
And the world will be as one
Die Utopie von Lennon und Ono lautet, dass es eine Welt geben wird, in der nicht mehr um Grenzen gestritten wird und deretwegen Kriege geführt werden. Falsche Nationalismen werden verstummen. Der Schlusssatz von Imagine fast alles zusammen: Religionen werden nicht mehr spalten; Grenzen werden nicht mehr trennen; die Gier von Menschen wird verstummen.
Klaus Heidegger, 7. 4. 2022