Wildspitze 2.0

Die Wildspitze war der Gipfel meiner Jugend- und Studentenzeit. Als Kind schon ging es mit Papa und Bruder geführt von dem Dekan meiner Heimatpfarre über den Grat vom Nordgipfel zum Südgipfel auf den höchsten Punkt Nordtirols. Ich kann mich noch gut an das weiße Seil erinnern, das uns verband. Am Gipfel stopfte sich der Dekan – wir nannten ihn immer so – seine Pfeife und paffte gemütlich, wie er es bei jeder Gelegenheit tat. Das weiße Seil ist verschwunden und sichert längst nicht mehr. Als der Dekan vor langer Zeit starb, konnte ich mich nicht von ihm verabschieden. Er hatte in meiner Kindheit, als ich fast täglich bei ihm ministrieren war, den Wunsch in mir genährt, Priester zu werden. In meiner Zeit im Priesterseminar war ich dann mehrmals mit Skiern auf der Wildspitze. Damals gingen wir noch an einem Tag von Mittelberg aus auf den Gipfel und fuhren über den Taschachgletscher hinunter. Handys gab es keine – und auch keine Bilder von damals sind heute vorhanden. Die Ausrüstung war schwer. An der Kondition und Ausdauer und einem gewissen Wagemut vor allem aber an Bergbegeisterung mangelte es aber nie. Der kühne Verbindungsgrat zwischen Nord- und Südgipfel war damals mit Schnee und Eis überzogen – jetzt schaut selbst im Winter nackter Fels hervor. Damals gab es aber vor allem noch nicht die Pitztaler Gletscherbahnen. Mein ökologisches Herz tat sich schwer mit diesen großen Eingriffen in die hochalpine Gletscherwelt. Zum Glück scheint zumindest der Widerstand von WWF und anderen Umweltgruppen gegen die noch größeren Eingriffe, wie sie mit dem Zusammenschluss der Gletscherschigebiete Pitztal-Ötztal geplant waren, inzwischen Erfolg gehabt zu haben, und man hat davon Abstand genommen.

Die Kassa öffnet um 8.00 Uhr. Die ersten öffentlichen Busse kommen an. So ist also auch eine Anfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut möglich. Um 8.30 startet der Pitzexpress. In der unterirdischen Standseilbahn habe ich das Gefühl wie in einer Rushhour in der U-Bahn in einer der Megacitys dieser Welt, nur dass hier Menschen nicht mit Aktenkoffern und in Business-Anzügen Körper an Körper stehen, sondern mit Ski- oder Snowboardausrüstung, mit Helmen und maskiert. Die Bahn saust in 8 Minuten die gut 1111 Höhenmeter hinauf ins Gletscherschigebiet am Mittelbergferner. Ich hatte schon vergessen, wie beeindruckend die Bergwelt in dieser Gegend ist. Die vielen Narben in der Natur, die diese Erlebniswelt in die Natur geschlagen hat, sind zum Glück mit frischem weißen Schnee bedeckt. Im Sommer muss es hier aussehen wie in einem aufgelassenen Industriegebiet.  Kühn schwingt sich die Wildspitz-Gondelbahn auf den Gipfel des Hinteren Brunnenkogels, wo sich mit 3440 m das höchstgelegene Kaffeehaus Österreichs befindet. Wir nehmen die Mittelberggondelbahn und steigen nach kurzer Abfahrt dann von dort hinauf auf das Mittelbergjoch 3166 m, nochmals kurze Abfahrt auf den Taschachferner.  Es tut gut, die High-Tech-Welt des Gletscherschigebietes hinter sich liegen zu lassen und unberührte Naturlandschaft vor sich zu haben. Das Ziel, der Doppelgipfel der Wildspitze, ist immer vor uns und wir sehen die Aufstiegsspur unterhalb der Gletscherbrüche und in einem weiten Bogen hinauf zum Südwestgrat des Südgipfels. Es gibt hier keine skitechnischen Herausforderungen. Insgesamt sind es nicht mehr als 700 Höhenmeter Aufstieg. Obwohl traumhaftes Wetter ist, sind nicht viele Tourengeher unterwegs. Die ausgegangene Spur vermittelt Sicherheit und das Seil bleibt im Rucksack. Gletscherspalten zeigen, dass ein Abkommen von der Route lebensgefährlich wäre. Ein paar Menschen kommen von der Ötztaler Seite hinauf. Ich bin dann am Südwestgrat froh um meine Steigeisen. Vom Skidepot zum Gipfel sind es nicht viele Höhenmeter. Nur an einer kurzen Stelle knapp unterhalb des Gipfels ist es notwendig, Griffe auch an den Felsen zu finden. Am Gipfel wird es dann etwas enger, sind wir doch auf einem der meistbesuchten Gipfel der Ostalpen. Noch wichtiger als der großartige Rundumblick ist es, dies alles nicht alleine zu erleben, sondern miteinander in Freundschaft.

Heute können wir die Abfahrt über den Taschachferner wählen. Ein Bergführer fährt mit einem Gast voraus und auch wir lassen nun das Seil wieder im Rucksack. Es gibt einige Spuren hinunter. Die Schneebedingungen sind gut. Zuletzt geht es in einem Steilhang hinunter ins Taschachtal, wo wir auf der rechten Seite hinausfahren bzw. hinausschieben. Unten im Tal blühen die Frühlingskrokusse.

Unsere Welt ist so schön, würde sie nicht von den Menschen kaputt gemacht werden. Ich spüre auch die Tränen und die Wut in mir, weil ich weiß: Diese Gletscherwelt wird es in dieser Fülle in Zukunft nicht mehr geben, weil wir Menschen die Erderhitzung, die Klimaveränderung und damit das Abschmelzen der Gletscher verursachen. Der tiefblaue Himmel ist am heutigen Tag durchkreuzt von den Kondensstreifen der Flugzeuge – so wie in den Tagen vor den Lockdowns vor mehr als zwei Jahren. Die mit Millionenbeträgen während der Lockdowns staatlich unterstützten Fluggesellschaften machen wieder ihre großen Geschäfte. Statt Lockdowns werden nun wieder Menschen angelockt mit Billigflügen, weil Kerosin weiterhin steuerbefreit ist. Die Erderhitzung und damit das beschleunigte Abschmelzen der Gletscher wird befeuert. So mischt sich in die Dankbarkeit für die in Freundschaft erlebte Bergwelt immer auch meine Sorge um die Schöpfung.

Klaus, 12. 4. 2022